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Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)

Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Goldstein
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nicht dein eigenes ist. Es ist das Bild einer Fremden.«
    »Bitte entschuldige«, flüstert er bedeppert. »Das ist der reinste Horror.«
    »Nur dass es kein Erwachen aus diesem Albtraum gibt. Denn er ist die Wirklichkeit.«
    »Sandra, es tut mir so …«
    »Schon gut«, winke ich ab.
    Prospero betrachtet mich aufmerksam, ohne meine Hand loszulassen. »Geht es wieder?«
    Ich schenke ihm ein mattes Lächeln.
    »Kannst du weitererzählen?«, fragt er besorgt und deutet auf das Bett, in dem Jibril vorhin gelegen hat – zumindest glaube ich das. »Er wird bald …«
    »Es gibt nicht mehr viel zu erzählen«, falle ich ihm ins Wort und hole tief Luft. »Im Dormitorium habe ich Galceráns Satteltaschen geplündert und seine Cotte zerschnitten, das Hemd aus festem Leinen, das er in Konstantinopolis unter dem wattierten Gambeson und der Rüstung getragen hatte. Dann habe ich Jibrils Wunde mit warmem Wasser ausgewaschen, die Wundränder mit dem Nähzeug aus Galceráns Tasche genäht, die Wunde mit den sauberen Leinenstreifen aus der Cotte verbunden und Jibril einige Schlucke Glühwein eingeflößt, den ich vorher mit dem Haschisch aus Konstantins Fläschchen versetzt hatte, das ich in der Küche gefunden hatte.
    Eine Weile habe ich ihn besorgt beobachtet, während er fest schlief, dann habe ich mir einen Stuhl herangezogen, die Beine auf eine der Reisetruhen gelegt und mein Notizbuch aufgeschlagen.«
    Prospero beugt sich gespannt vor, die Ellbogen auf die Knie gestützt, die Hände gefaltet.
    »Und weiter?«, drängt er und wirft einen raschen Blick zum Fenster. Draußen wird es immer dunkler.

Kapitel 56
    In der Zelle des Abtes
22. Dezember 1453
Kurz nach halb neun Uhr morgens
    Zwei Seiten des Büchleins sind zusammengeleimt, als würden sie ein Geheimnis bewahren. Ich nestele an den oberen Ecken herum, bis ich mit den Fingerspitzen das Pergament vorsichtig auseinanderreißen kann. Die mit Notizen und Zeichnungen vollgekritzelten Seiten sind nahezu unversehrt. Nur an einigen Stellen klebt die Schraffur des Silberstiftes von der rechten Seite in den Leimflecken auf der linken. Es entsteht ein ungenaues Spiegelbild von … ja, was ist das eigentlich?
    Die Skizze ist ein wenig ungelenk, als ob ich das Büchlein in der Hand gehalten hätte, während ich zeichnete.
    Es sind Schiffe mit geblähten Segeln. Türkische Galeeren, die über einen Berg zu segeln scheinen …
    Darunter hingekritzelt das Datum des denkwürdigen Ereignisses: Sonntag, 22. April 1453.
    Reglos sitze ich da, starre auf das Pergament, bis die Striche ineinander verschwimmen. Mit einer Wucht, die mich fast vom Stuhl wirft, kehrt plötzlich die Erinnerung zurück.
    Ich weiß noch, es war in der ersten Morgendämmerung, und Konstantin stand neben mir. Einige Schritte weiter drängten sich der Megadux Lukas Notaras und Kardinal Isidor von Kiew, beide bleich wie der Tod, gegen die Brüstung. Entsetzt blickten wir über die Zinnen des Kaiserpalastes und über das Goldene Horn hinweg zu den Bergen.
    Tausende von Arbeitern hatten den uns gegenüberliegenden Abhang zu einer Straße eingeebnet, die über die Höhe von Pera verlief, vermutlich von den Ufern des Bosporus bis hinunter zum Goldenen Horn. Mit Öl und Talg geschmierte Holzstämme dienten als Gleitschienen. Ganz leise drang ein Knarren und Quietschen über das Wasser zu uns herüber. Ochsengespanne zogen gewaltige Tragwiegen, auf denen die Schiffe vertäut waren. In jeder Galeere hockten die türkischen Ruderer auf ihren Ruderbänken und bewegten die Riemen im Takt der Trommeln und Trompeten. Fahnen und bunte Wimpel flatterten in der Morgenbrise, und die Segel waren gehisst, als bewegten sich die Schiffe auf hoher See. Offiziere trieben die Männer an den Ochsengespannen an, die die gewaltige Prozession der Schiffe vom Bosporus über die Anhöhe uns gegenüber bis hinunter ins Wasser des Goldenen Horns schleppten.
    Ein ungewöhnlicher, aber auch ein erschreckender Anblick: Zwischen den Weinstöcken auf dem Hügelkamm dort drüben tauchte als Erstes ein Schiffsmast mit flatternder türkischer Fahne auf, dann ein ganzes Kriegsschiff – dicht gefolgt vom nächsten Schiffsmast.
    Das Triumphgeschrei, als das erste türkische Schiff mit geblähten Segeln und aufspritzender Bugwelle ins Wasser sauste, drang bis zu uns herüber.
    Ich blinzelte in die Morgendämmerung. Dort drüben, neben der langen Reihe von Schiffen, die nacheinander mit rasender Geschwindigkeit unter dem fröhlichen Gejohle der Mannschaft den

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