Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)
und zog die Trage Stufe für Stufe nach oben in die Kirche. Dann rumpelten wir über die Dielen des Schlafsaals und erreichten endlich das Schlafzimmer des Abtes.«
Der Kardinal runzelt die Stirn und blickt hinüber zum zerwühlten Bett. »Und wieso hast du ihn in dein Bett gelegt?«
»Weil es im Dormitorium keinen Kamin gibt.«
Ein mattes Lächeln umspielt seine Lippen. »Du warst ja wirklich besorgt um ihn.«
Ich nicke. »Jibril von der Trage in mein Bett zu hieven kostete mich ziemlich viel Kraft. Nach mehreren vergeblichen Versuchen, seine Beine auf die Matratze zu legen, um ihn dann unter den Achseln zu packen und hochzuheben, lehnte ich schließlich die Trage, auf zwei Stühle gestützt, wie eine Rampe gegen das Bett. Dann kroch ich über die Matratze und zog Jibril hinter mir her. Er wachte nicht auf, als ich ziemlich grob an ihm herumzerrte, bis er endlich richtig lag. Ich bettete seinen Kopf auf das Kissen und deckte ihn zu. Dann schürte ich das Feuer, damit er nicht fror, und nahm die blutigen Binden von seinem Kopf.«
»Und?«
»Ich war ziemlich erschrocken. Die Wunde sah schlimmer aus, als ich es ihm in der Krypta zugestehen wollte. Die Kopfhaut über der rechten Schläfe klaffte weit auf und blutete noch immer. Als ich die zerfetzte Haut und die verklebten Haare zur Seite schob, konnte ich seinen Schädelknochen schimmern sehen.«
»Dio del Cielo! Wenn ich daran denke, dass du mich als Kind mal verprügelt hast …« Er ringt sich ein mattes Lächeln ab. »Erinnerst du dich noch daran?«
»Nein.«
»Im Garten unseres Palazzos in Rom stehen die Ruinen eines antiken Tempels für Serapis. In diesem hellenistisch-ägyptischen Heiligtum hast du als Kind deine ersten Ausgrabungen als Schatzsucherin gemacht. Einen versiegelten Tonkrug voller Schriftrollen mit ägyptischen Hieroglyphen hast du gefunden. Ich wollte ihn mir nur mal ansehen. Ich bin also mitten in der Nacht in dein Zimmer geschlichen …«
»… und ich habe dich verprügelt.«
»Und wie! Dein Vater hat sich furchtbar darüber aufgeregt. Aber dein Großvater, der alte Haudegen, hat nur schallend gelacht. Der Bannerträger der Kirche hat dich in jeder Hinsicht wie einen jungen Mann behandelt – wie einen seiner Bravi in seinem Heer. Und mein Onkel, der Papst, hat in dir immer den Sohn gesehen, den er als Pontifex nicht haben konnte. Jeden Unfug hat er dir mit einem verschwörerischen Augenzwinkern verziehen. Und deine Streiche waren gefürchtet! Weißt du noch, wie du die Marmorstatue des heiligen Dominikus stigmatisiert hast?«
»Nein.«
»Du hast den Messwein aus der Sakristei von San Pietro gestohlen und die Statue des heiligen Dominikus bluten lassen. Es war deine Rache für das, was die dominikanischen Inquisitoren von Santa Maria sopra Minerva dir als Kind angetan haben. Dein Vater war Dominikaner, habe ich dir das schon erzählt? Er war Inquisitor von Rom. Erinnerst du dich, wie du die Mönche im Laterankloster mit den klappernden Gebeinen des Teufelspapstes in Angst und Schrecken versetzt hast?«
Ich schüttele den Kopf. »Nein.«
Ich erinnere mich nicht. Und es fällt mir schwer, all das zu behalten, was Prospero mir erzählt. Ich bin verwirrt … aufgewühlt … bestürzt.
»Wenn die Gebeine von Papst Silvester II., dem Teufelspapst, in seinem Grab rumoren, ist das der Legende nach ein düsteres Omen, dass der regierende Pontifex bald sterben wird. Du lieber Himmel, war das eine Aufregung, nicht nur im Lateran, sondern auch im Vatikan. Du hattest damals ziemlich viel Unsinn im Kopf. Der päpstliche Sekretär, jetzt Kardinal Capranica, hat wegen dir und deinen Streichen einen Nervenzusammenbruch erlitten. Domenico verdreht heute noch die Augen, wenn ich ihn damit aufziehe. ›Schrecken des Vatikans‹ hat er dich genannt.«
»Ich kann mich nicht erinnern.«
Prospero nickt ernst. Plötzlich wirkt er bekümmert. »Kardinal Domenico Capranica ist dein Freund und Vertrauter.«
Der Vater ein Mönch und Inquisitor, der Großvater ein Conte und Condottiere der Kirche, der Cousin ein Papst … Mir schwirrt der Kopf.
Prospero, der ahnt, was in mir vorgeht, beugt sich vor, ergreift meine Hand und drückt sie. »Es tut mir leid, Sandra. Ich wollte dich nicht noch weiter verwirren. Mir war nicht klar, wie sehr dich das alles aufwühlen muss.«
Ich seufze leise. »Es ist, als ob du in einen Spiegel blickst und nur einen verschwommenen Schatten erkennst. Je näher du herantrittst, desto schärfer wird das Gesicht. Nur dass es eben
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