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Das letzte Experiment

Das letzte Experiment

Titel: Das letzte Experiment Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Kerr
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Ein hübsches ruhiges Fleckchen.»
    Plötzlich hörten wir nordwestlich von uns, mitten im Scheunenviertel, zwei Schüsse.
    «Wohl doch nicht so ruhig», sagte ich. Ein dritter Schuss fiel, dann ein vierter. «Klingt, als wären deine Freunde heute Nacht wieder unterwegs», fügte ich hinzu.
    «Das hat nichts mit uns zu tun», sagte Grund. «Eher mit den Allzeit Getreuen. Das ist ihr Revier.»
    Die Allzeit Getreuen waren eine der mächtigsten Verbrecherbanden Berlins.
    «Aber wenn gerade ein Roter erschossen wurde, dann wäre das doch gut für deine Bande.»
    Heinrich Grund war mein bester Freund bei der Polizei, oder zumindest war er es gewesen. Wir waren zusammen bei der Armee. Ich hatte in meinem Büro ein Bild an der Wand hängen, auf dem niemand Geringeres als Paul von Hindenburg, der Präsident der Republik, Heinrich die Siegermedaille der Preußischen Polizeiboxmeisterschaften überreichte. Doch in der Woche zuvor hatte ich erfahren, dass mein alter Freund der NSBAG beigetreten war – der Nationalsozialistischen Beamten-Arbeitsgemeinschaft. Ich musste einräumen, dass es zu ihm passte – er war ein Boxer mit dem Ruf,seinen Kopf zu benutzen. Nichtsdestotrotz fühlte ich mich hintergangen und betrogen.
    «Wie kommst du auf den Gedanken, dass ein Nazi auf einen Roten geschossen hat. Vielleicht hat ja auch ein Roter auf einen Nazi geschossen?»
    «Ich weiß es eben.»
    «Aha, und woher?»
    «Wir haben Vollmond, da kommen Werwölfe und Nazis aus ihren Löchern gekrochen und morden.»
    «Sehr lustig.» Grund lächelte nachsichtig und steckte sich eine Zigarette an. Er blies das Streichholz aus und verstaute es umsichtig wieder in der Jackentasche, um es nicht am Fundort der Leiche zurückzulassen. Er mochte ein Nazi sein, aber er war trotzdem immer noch ein guter Detektiv. «Aber du und deinesgleichen, ihr seid vollkommen anders, wie?»
    «Meinesgleichen? Wer ist denn meinesgleichen?»
    «Komm schon, Bernie. Jeder weiß, dass der Verband die Roten unterstützt.»
    Der «Verband» war der Verband der Polizeibeamten von Preußen, dem ich angehörte. Er war nicht die größte Gewerkschaft. Das war die Allgemeine. Aber dort waren die wichtigen Leute   – Polizeibeamte wie Dillenburger und Borck – öffentlich rechts und antisemitisch. Was der Grund dafür war, dass ich aus der Allgemeinen ausgetreten war und mich dem «Verband» angeschlossen hatte.
    «Der Verband ist nicht kommunistisch», klärte ich ihn auf. «Wir unterstützen die Sozialdemokraten und die Republik.»
    «Ach ja? Und warum dann die Eiserne Front gegen die Faschisten? Warum nicht auch eine Eiserne Front gegen die Bolschewiken?»
    «Weil die meiste Gewalt auf den Straßen von den Nazis ausgeübt oder provoziert wird – wie du im Übrigen sehr wohl weißt, Heinrich.»
    «Und wie bist du zu dieser Annahme gelangt?»
    «Diese Frau in Neukölln, der Fall, den Lipik untersucht – noch bevor er vom Alex aufgebrochen ist, hatte er schon den Verdacht, dass sie in die Schusslinie eines Nazis geraten war, der auf einen Roten gezielt hatte.»
    «Schön. Dann war es eben ein Unfall. Ich sehe nicht, wie das beweisen soll, dass die Nazis für die meiste Gewalt auf den Straßen verantwortlich sind.»
    «Nein? Nun, vielleicht solltest du mal mit zu mir nach Hause kommen und einen Blick aus meiner Wohnung hinunter auf die Dragonerstraße werfen. Die Zentralbüros der Kommunistischen Partei Deutschlands liegen gleich um die Ecke am Bülowplatz, und das ist ausgerechnet der Ort, an dem die Nazis ihr demokratisches Recht ausüben, einen Aufmarsch abzuhalten. Klingt das etwa besonnen oder zurückhaltend? Oder gesetzestreu?»
    «Beweist ja, was ich gesagt habe, nicht wahr? Du wohnst in einer roten Gegend.»
    «Es beweist lediglich, dass die Nazis ständig auf Prügeleien aus sind.»
    Ich knipste die Taschenlampe wieder an, beugte mich vor und betrachtete noch einmal eingehend den Leichnam des jungen Mädchens. Ihr Oberkörper war praktisch unversehrt. Das Mädchen war dreizehn oder vierzehn Jahre alt, blond, mit hellblauen Augen und einer kleinen Milchstraße von Sommersprossen rings um ihre Stupsnase. Es war das Gesicht eines kleinen Trotzkopfs, und man hätte sie leicht für einen Knaben halten können. Der einzige Hinweis auf ihr Geschlecht waren die kleinen Brüste – die anderen Geschlechtsteile hatte ihr Mörder entfernt, zusammen mit den Gedärmen, der Gebärmutter und was sonst noch normalerweise dort unten hineingepackt war. Doch ihr schrecklicher Anblick

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