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Das letzte Experiment

Das letzte Experiment

Titel: Das letzte Experiment Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Kerr
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brachte mich noch nicht aus der Fassung. Sowohl Heinrich als auch ich hatten derartig zugerichtete Leichen schon viele Male gesehen, in den Schützengräben des Weltkrieges. Mich beschäftigte eine andere Frage: Mir fiel auf, dass das linke Bein des Mädchens geschient war. «Kein Gehstock»,sagte ich und tippte mit meinem Stift gegen die Schiene. «Man sollte meinen, dass sie einen Stock zum Gehen hatte.»
    «Vielleicht brauchte sie keinen. Nicht jeder Krüppel braucht einen Gehstock.»
    «Da hast du recht. Goebbels kommt ganz prima ohne zurecht, nicht wahr? Für einen Krüppel? Andererseits schwingt er einen Schlagstock, sobald er den Mund aufmacht.» Ich zündete mir eine Zigarette an und seufzte. «Warum tun Menschen so etwas?», sagte ich eher zu mir selbst als zu Heinrich.
    «Du meinst, Kinder umbringen?»
    «Das ist bestialisch. Pervers.»
    «Das ist offensichtlich», sagte Grund.
    «Was meinst du?»
    «Das ist pervers. Entartet. Aber wundert dich das wirklich? Es erstaunt doch nicht, dass entartete Gestalten unter uns leben, die solche Dinge tun. Wenn man bedenkt, wie viel Schmutz und Entartung diese schwächliche Regierung duldet! Sieh dich um, Bernie! Berlin ist ein Moloch. Sieh es dir an, was da im Schatten kreucht und fleucht: die Schmierer, die Zuckerlecker, die Transen, die Zuhälter, die Nutten   … Frauen, die Männer sind, und Männer, die Frauen sind. Das ist krank. Korrupt. Entartet. Und all das wird hingenommen von deiner geliebten Weimarer Republik!»
    «Und du meinst, alles wird wieder gut, wenn Adolf Hitler erst an die Macht kommt.» Ich lachte. Die NSDAP hatte bei den letzten Wahlen gute Ergebnisse erzielt, doch niemand, der all seine Sinne beisammen hatte, glaubte, dass sie imstande wäre, das Land zu regieren. Niemand glaubte auch nur für eine Minute, dass Präsident von Hindenburg jemals den Mann, den er verachtete – einen dahergelaufenen Gefreiten aus Österreich   –, zum nächsten deutschen Kanzler machen würde.
    «Warum nicht? Wir brauchen jemanden, der die Ordnung in diesem Land wiederherstellt.»
    Während er redete, war ein fünfter Schuss zu hören.
    «Und wer wäre besser geeignet, all dem ein Ende zu machen, als der Mann, der es in erster Linie zu verantworten hat? Ich kann sogar eine gewisse Logik dahinter erkennen, in der Tat.»
    Einer der Uniformierten kam herbei. Wir erhoben uns. Es war Gollner, wegen seiner Größe und seines Körperumfangs auch «Tanker» genannt.
    «Während Sie beide sich hier gestritten haben», verkündete er, «habe ich einen Kordon um diesen Teil des Parks gelegt, um die Neugierigen wegzuhalten. Wir wollen schließlich vermeiden, dass Einzelheiten in die Zeitungen kommen. Dumme Menschen nicht auf dumme Gedanken bringen. Dinge zu gestehen, die sie nicht getan haben. Wir sehen uns die Sache am Morgen genauer an.»
    «Danke, Tanker», sagte ich. «Ich hätte   …»
    «Vergessen Sie’s.» Er atmete tief durch. Die nächtliche Luft war feucht, eine leichte Brise wehte vom Märchenbrunnen herüber. «Hübsch hier, nicht wahr?», sagte er. «Ich mochte den Park immer sehr. Ich war oft hier. Mein Bruder liegt dort drüben begraben.» Er deutete in Richtung des Städtischen Krankenhauses. «Bei den Revolutionären von 1848.»
    «Ich wusste gar nicht, dass Sie so alt sind, Tanker», sagte ich.
    Er grinste. «Bin ich auch nicht. Nein, er wurde von den Freikorps erschossen, im Dezember 1918.   Er war ein anständiger Linker – ein richtiger Querkopf, aber das hatte er nicht verdient. Nicht nach allem, was er in den Schützengräben durchgemacht hatte.» Roter oder nicht, keiner verdiente es, erschossen zu werden für das, was passiert war.
    «Erzählen Sie das nicht mir», sagte ich und zeigte auf Heinrich Grund. «Erzählen Sie es ihm.»
    «Er weiß, was ich denke», sagte Tanker. Er blickte auf den Leichnam des Mädchens. «Was ist mit ihrem Bein?»
    «Spielt doch wohl kaum noch eine Rolle», entgegnete Grund.
    «Vielleicht hatte sie Kinderlähmung», sagte ich. «Oder eine spastische Lähmung?»
    «Nicht zu glauben, dass ihre Eltern sie allein nach draußen gelassen haben, wie?», sagte Grund.
    «Sie war behindert.» Ich bückte mich und durchsuchte ihre Manteltaschen. Ich fand eine Rolle Geldscheine, eingewickelt in einen Gummi. Die Rolle war so dick wie der Griff eines Tennisschlägers. Ich warf Grund das Bündel zu. «Es gibt reichlich behinderte Menschen, die perfekt allein zurechtkommen. Selbst die Kinder.»
    «Müssen mehrere hundert Mark

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