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Das letzte Experiment

Das letzte Experiment

Titel: Das letzte Experiment Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Kerr
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sein   …», murmelte er. «Woher hat ein Kind so viel Geld?»
    «Ich weiß es nicht.»
    «Die Kinder haben oft auch gar keine andere Wahl, als allein zurechtzukommen», sagte Tanker. «Die riesige Zahl der Verstümmelten und Verletzten, die wir nach dem Krieg hatten   … ich hatte früher das Revier direkt neben dem Städtischen Krankenhaus. Habe mich mit einigen der Jungs angefreundet, die dort lagen. Viele von ihnen mussten lernen, ohne Arme oder ohne Beine zu leben.»
    «Es ist eine Sache, wenn man im Kampf für das Vaterland verwundet und verstümmelt wird», sagte Grund, während er mit der Geldrolle spielte. «Es ist eine ganz andere, behindert geboren zu werden.»
    «Was genau willst du damit sagen?», fragte ich.
    «Das Leben ist schwer genug für Eltern, auch ohne die Sorge um ein behindertes Kind.»
    «Vielleicht hat es ihnen nichts ausgemacht, sich um ihr Kind zu sorgen. Nicht, wenn sie ihre Tochter geliebt haben.»
    «Wenn ihr mich fragt, ist sie jetzt besser dran, falls sie tatsächlich spastisch war», sagte Grund. «Ganz Deutschland geht es besser, wenn weniger Krüppel herumlaufen.» Er bemerkte meinen Blick. «Nein, wirklich. Es ist eine einfache Frage von rassischer Reinheit. Wir müssen unser Erbgut schützen.»
    «Mir fällt spontan sofort jemand ein, ohne den unser Erbgut besser dran wäre», sagte ich.
    Tanker verabschiedete sich lachend.
    «Abgesehen davon, es ist nur eine Schiene. Viele Kinder tragen Schienen», sagte ich, als Tanker gegangen war.
    «Vielleicht», räumte Grund ein. Er gab mir die Geldrolle zurück. «Aber nicht jedes Kind trägt mehrere hundert Mark mit sich herum.»
    «Stimmt. Wir schauen uns besser ein wenig um, bevor die Spuren zerstört sind. Sehen wir mal, was wir finden, wenn wir den Boden mal genauer betrachten.»
    Ich kniete mich hin und kroch auf allen vieren langsam in Richtung Königstor. Heinrich Grund folgte meinem Beispiel in einem Abstand von zwei Metern zu meiner Linken. Es war eine warme Nacht, das Gras fühlte sich trocken an und roch süßlich unter meinen Händen. Wir sahen zwar sicherlich ein bisschen albern aus, aber Ernst Gennat schwor auf diese Methode. In dem Handbuch, das er uns gegeben hatte, beschrieb er, wie Details Mordfälle lösten: Patronenhülsen, Blutflecken, Kragenknöpfe, Zigarettenstummel, Streichholzbriefchen, Ohrringe, Haarbüschel, Parteiabzeichen. Große Gegenstände, die nicht zu übersehen waren, wurden üblicherweise vom Täter wieder mitgenommen. Kleine Dinge aber vergaßen sie oft. Die kleinen Dinge hatten schon den einen oder anderen Täter den Kopf gekostet. Aber wir nannten diese Gegenstände nicht «Hinweise». Gennat hasste das Wort.
    «Hinweise sind für Ahnungslose», pflegte der Volle Ernst stets zu sagen. «Ich verlange mehr von meinen Detektiven. Denken Sie an bunte Farbtupfer auf einer Leinwand. Wie bei diesem Franzaken, der mit kleinen Punkten gemalt hat, Georges Seurat. Jeder Punkt für sich allein genommen bedeutet überhaupt nichts. Aber wenn Sie ein paar Schritte zurücktreten und sämtliche Punkte nebeneinander betrachten, ergibt sich ein Bild. Und genau das ist es, was ich von Ihnen will. Sie sollen lernen, ein Bild zu malen wie Georges Seurat.»
    Und deshalb krochen Heinrich Grund und ich wie Hunde durch den Park am Friedrichshain. Die Berliner Polente malte ein Bild.
    Hätte ich geblinzelt, hätte ich sie vielleicht übersehen. Zuerstdachte ich: eine kleine Kornblume, die so leuchtend blau war wie die Augen des toten Mädchens. Aber es war eine Pille, die auf ein paar Grashalmen lag. Ich hob sie auf und hielt sie mir dicht vors Auge und stellte fest, dass sie noch nicht aufgeweicht war – was bedeutete, dass sie noch nicht lange dort gelegen haben konnte. Am frühen Nachmittag hatte es einen kurzen Regenschauer gegeben, also konnte sie erst später zu Boden gefallen sein. Ein Mann auf dem hastigen Rückweg vom Märchenbrunnen, wo er die Leiche abgelegt hatte, konnte vielleicht eine Pillenschachtel hervorgezogen und in seinem nervösen Zustand mit zittrigen Fingern darin gekramt und dabei eine verloren haben. Jetzt musste ich nur noch herausfinden, um was für eine Pille es sich handelte.
    «Was hast du gefunden, Chef?»
    «Eine Pille», antwortete ich und reichte sie ihm.
    «Was für eine Pille?»
    «Ich bin kein Apotheker.»
    «Soll ich im Städtischen Krankenhaus nachfragen?»
    «Nein. Ich werde Hans Illmann um Hilfe bitten.»
    Illmann war Professor für Gerichtsmedizin am Institut für

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