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Das letzte Experiment

Das letzte Experiment

Titel: Das letzte Experiment Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Kerr
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Schultern. «Wenn Sie meinen. Ist Ihnen irgendetwas aufgefallen?»
    «Abgesehen vom Offensichtlichen? Nein.» Ich schüttelte den Kopf. «Ich habe beim ersten Mal nicht genau hingesehen, das ist alles.»

SECHS
BERLIN
1932
    In einem Handbuch über Gerichtsmedizin, das Ernst Gennat sämtlichen Polizisten überreichte, die zur Abteilung IV kamen, gab es eine Fotografie, die beim ersten Anblick unweigerlich für eine gewisse Heiterkeit sorgte. Auf dem Bild lag eine nackte junge Frau mit hinter dem Rücken gefesselten Händen auf einem Bett. Um den Hals trug sie eine straff gezogene Abbindeschnur, und eine Hälfte ihres Kopfes war durch eine Ladung Schrot aus nächster Nähe weggeschossen. Ach ja, und sie hatte einen Dildo im Anus. Daran war noch nichts Lustiges. Es war vielmehr die Bildunterschrift. Dort stand wortwörtlich: «Umstände, die Verdacht erwecken». Niemand schaffte es, dabei ernst zu bleiben. Wann immer einer von uns, die wir nach Abteilung IV abgeordnet waren, zu einem abscheulichen Mordfall gerufen wurde, wiederholten wir die Worte dieser Bildunterschrift. Es half, die Dinge ein wenig erträglicher zu gestalten.
    Wir wurden in den Park am Friedrichshain gerufen; ganz in der Nähe des Spitals, im östlichen Teil von Berlin, war die Leiche einer jungen Frau entdeckt worden. Der Park war beliebt bei Kindern wegen des Märchenbrunnens dort. Wasser floss über flache Stufen, an deren Seite Märchenfiguren saßen, die jeder kannte. Als der Anruf im Polizeipräsidium am Alexanderplatz einging, gab es noch die Hoffnung, dass die junge Frau durch einen unglücklichen Unfall gestürzt und ertrunken war. Doch ein Blick auf den Leichnam, und diese Hoffnung hatte sich zerschlagen. Sie war offenbar das Opfer eines großen bösen Wolfs aus einem der alten Märchen geworden.Ein sehr böser Wolf, der versucht hätte, jede einzelne der kleinen Kalksteinfiguren des Märchenbrunnens zu fressen.
    «Ich will verdammt sein, Chef», entfuhr es meinem Assistenten, KBS Heinrich Grund, als wir den Leichnam im Schein unserer Taschenlampen betrachteten. «Umstände, die Verdacht erwecken, oder was?»
    «Sieht ganz danach aus, wie?»
    «Nur ein klein wenig, ja. Verdammt. Warte, bis die Jungs am Alex davon hören.»
    Am Alex gab es keinen permanenten Stab von Kriminalbeamten für Mordermittlungen. Abteilung IV war lediglich ein aufsichtsführendes Organ mit drei ständig abwechselnden Gruppen von Beamten aus anderen Berliner Bezirken – in der Theorie. In der Praxis funktionierte es anders. 1932 waren drei Gruppen im aktiven Dienst und keine mehr in Reserve. In jener Nacht war ich bereits drüben im Wedding gewesen, um mir den Leichnam eines fünfzehnjährigen Knaben anzusehen, der erstochen an einer Bushaltestelle gefunden worden war. Die beiden anderen Gruppen waren ebenfalls aktiv: KOK Müller untersuchte den Tod eines Mannes, den man in Lichtenrade an einem Lampenmast aufgeknüpft gefunden hatte, und KOK Lipik ermittelte in Neukölln wegen einer Schießerei, bei der eine Frau zu Tode gekommen war. Aber von einer Verbrechenswelle kann nicht die Rede sein. Die meisten Morde, die sich in diesem Frühjahr und Sommer in Berlin ereigneten, waren politisch motiviert. Wenn man die «Wie-du-mir-so-ich-dir»-Gewalt zwischen den Nazis und den kommunistischen Kadern außen vor ließ, zeigte die Kriminalstatistik der Stadt in den letzten Monaten der Weimarer Republik eindeutig einen Rückgang an Gewaltverbrechen.
    Der Park am Friedrichshain lag gut anderthalb Kilometer nordwestlich vom Alex. Nach dem Anruf waren wir in weniger als zwanzig Minuten vor Ort: ich, Kriminalbezirkssekretär Grund, ein weiterer gewöhnlicher Kriminalsekretär, ein Kriminaluntersekretär und ein halbes Dutzend uniformierte Beamte von der Schutzpolizei.
    «Ein Lustmord, oder was?», fragte Grund.
    «Könnte sein. Allerdings gibt es nicht viel Blut am Fundort der Leiche. Was auch immer der Täter mit dem Opfer angestellt hat, er muss es irgendwo anders getan haben.» Ich blickte mich suchend um. Das Königstor lag nur wenige Meter westlich. «Er könnte mit dem Wagen bis zur Friedensstraße gefahren sein – oder bis zur Straße Am Friedrichshain – und bis zum Einbruch der Dunkelheit gewartet haben, bevor er die Leiche aus dem Kofferraum gehoben und hierhergetragen hat.»
    «Mit dem Park auf der einen Seite und nichts als Friedhöfen auf der anderen ist das eine gute Stelle dafür», sagte Grund. «Jede Menge Bäume und Büsche, hinter denen er Deckung gefunden hat.

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