Das letzte Experiment
das er gerade mit seinem schwarzen Pelikan-Füllfederhalter verfasste. Von Zeit zu Zeit legte er den Stift beiseite und führte die Zigarre zum Mund, und ich fand die Vorstellung lustig, dass er Stift und Zigarre verwechseln könnte und versuchen würde, mit der Zigarre zu schreiben.
«Wir müssen weiter unsere polizeiliche Pflicht erfüllen, auch wenn dies in unseren Zeiten schwer ist», sagte er mit seiner tiefen, ruhigen Stimme. Schließlich legte er den Füllfederhalter beiseite, lehnte sich auf seinem knarrenden Drehsessel zurück und musterte mich mit seinem wachen Blick. «Meinen Sie nicht auch, Bernie?»
«Ja, Chef.»
«Die Berliner haben ihrer Polizei nicht verziehen, was 1918 passiert ist, als der Alex sich ohne einen Schuss der Anarchie und der Revolution ergeben hat.»
«Nein, Chef. Aber was sonst hätte die Polizei tun können?»
«Das Gesetz aufrechterhalten, Bernie. Stattdessen hat sie nur versucht, die eigene Haut zu retten. Es ist unsere Aufgabe, das Gesetz zu schützen. Immer.»
«Und was, wenn die Nazis die Macht übernehmen? Sie werden das Gesetz und die Polizei für ihre eigenen Zwecke missbrauchen.»
«Das Gleiche haben die Unabhängigen Sozialisten 1918 unter Emil Eichhorn getan. Wir haben die Sozialisten überlebt, wir werden auch die Nazis überleben.»
«Vielleicht.»
«Wir brauchen ein wenig mehr Zuversicht, Bernie», sagte er. «Wenn die Nazis an die Macht kommen, wird unser parlamentarisches System Unrecht verhindern.»
«Ich hoffe, Sie haben recht, Chef.» Ich begann zu glauben, Isidorhabe mich zu sich gebeten, um mir einen Vortrag in Politikwissenschaften zu halten, als er unvermittelt auf den Punkt kam.
«Ein englischer Philosoph namens Jeremy Bentham hat einmal geschrieben, dass Öffentlichkeit die Seele der Gerechtigkeit ist. Dies trifft im Fall von Anita Schwarz in besonderem Maße zu. Um einen anderen englischen Juristen zu zitieren: Die Ermittlungen zu ihrem Tod müssen nicht nur weitergehen, sie müssen mit aller Macht vorangetrieben werden. Ich komme sogleich zu meiner Begründung. Helga Schwarz, die Mutter der Ermordeten, ist eine Cousine Kurt Dalueges. Damit erweckt dieser Fall großes öffentliches Interesse, Bernie. Ich möchte darauf hinweisen, dass wir ganz bestimmt keinen Dr. Goebbels gebrauchen können, der in seiner so geschmacklosen wie einflussreichen Zeitung über die inkompetente Polizei herzieht. Er wird behaupten, dass wir nicht schnell genug ermitteln, weil die Ermordete aus einer Nazi-Familie kommt. Persönliche Voreingenommenheiten haben hier keinen Platz, Bernie. Habe ich mich klar und deutlich ausgedrückt?»
«Jawohl, Chef. Klar.» Ich mochte keinen Doktortitel in Jura haben wie Bernhard Weiß, doch ich war auch nicht auf den Kopf gefallen. Kurt Daluege war ein Kriegsheld mit hohen Auszeichnungen. Er wirkte zurzeit in der SS und war davor S A-Führer in Berlin gewesen. Davon abgesehen war er einer von Goebbels’ Stellvertretern, und – wichtiger noch für uns – ein NSDA P-Abgeordneter im Preußischen Staatsparlament, dem die Berliner Polizei Loyalität schuldete. Daluege konnte Ärger für die Berliner Polizei bedeuten. Mit Freunden wie den seinen hätte er in einem Benediktinerkloster Streit angezettelt. Eingeweihte gingen davon aus, dass die Nazis, sollten sie je die Macht in Berlin übernehmen, Daluege zum Polizeipräsidenten machen wollten. Nicht, dass er Erfahrung mit der Polizei gehabt hätte. Er war nicht einmal Jurist. Trotzdem war er in einer Hinsicht unschlagbar: Er würde ganz genau das tun, was Hitler und Goebbels ihm sagten. Und ich nahm an, das Gleiche galt auch für seine angeheiratete Verwandtschaft, Otto Schwarz.
«Aus diesem Grund habe ich für heute Nachmittag eine Pressekonferenz anberaumt», sagte Isidor. «Damit Sie allen Zeitungen sagen können, wie ernst wir diesen Fall nehmen. Dass wir allen Spuren nachgehen. Dass wir nicht ruhen werden, bis der Mörder gefasst ist. Was sage ich, Sie kennen das ja. Es ist schließlich nicht Ihre erste Pressekonferenz. Hin und wieder waren Sie ja sogar ganz gut.»
«Danke sehr, Chef.»
«Allerdings haben Sie eine Berliner Schnauze und sollten manchmal ihre Wortwahl überdenken. Ganz besonders, wenn es um einen politischen Fall wie diesen geht.»
«Also ist es ein politischer Fall, Chef?»
«Ich würde das so sehen. Sie nicht?»
«Doch, Chef.»
«Ernst Gennat und ich werden der Konferenz selbstverständlich beiwohnen. Aber es ist Ihre Ermittlung und Ihre Konferenz. Ernst und
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