Das letzte Experiment
ich werden uns auf Aussagen zu Ihrer Kompetenz beschränken. Kommissar Gunthers beeindruckende Reputation, seine außergewöhnliche Beharrlichkeit, seine scharfen psychologischen Schlussfolgerungen, seine beeindruckende Quote an aufgeklärten Verbrechen. Der übliche Mist eben.»
«Danke für das Vertrauen, Chef.»
«Nun, was haben Sie bisher herausgefunden?»
«Nicht viel. Wir wissen mit Bestimmtheit, dass sie nicht im Park getötet wurde. Irgendwann im Verlauf des Tages erfahren wir mehr über die Todesursache. Schwer zu sagen, ob es ein Lustmord war oder nicht. Vielleicht hat der Täter aus diesem Grund sämtliche Sexualorgane entfernt. Außerdem gibt es zu berichten, dass mir die Reaktion von Herrn und Frau Schwarz höchst verdächtig vorkam. Keiner der beiden schien sonderlich aufgewühlt, als ich ihnen gestern Abend die Nachricht vom Tod ihrer Tochter überbracht habe.»
«Gütiger Himmel, Bernie! Ich hoffe doch, Sie wollen nicht andeuten, dass Sie die beiden verdächtigen?»
Ich dachte ein paar Sekunden lang nach. «Vielleicht täusche ichmich, Chef. Aber das Mädchen war behindert. Irgendwie habe ich den Eindruck, dass sie froh sind, ihre Tochter los zu sein, das ist alles. Vielleicht.»
«Ich vertraue darauf, dass Sie nichts dergleichen bei der Pressekonferenz erwähnen.»
«Sie kennen mich, Chef.»
«Zugegeben, manche Nazis haben ein paar abwegige Vorstellungen, wenn es um die Benachteiligten und Schwachen unserer Gesellschaft geht. Um diejenigen, die mit einer körperlichen oder geistigen Behinderung leben. Allerdings sind selbst die Nazis nicht so dumm, zu glauben, dass sie damit auch nur eine Stimme gewinnen. Niemand wählt eine politische Partei, die für die Ausrottung der Kranken und Gebrechlichen stimmt. Nicht nach einem Krieg, der Tausende und Abertausende Männer zu Versehrten gemacht hat.»
«Nein. Vermutlich nicht, Chef.» Ich zündete mir eine Zigarette an. «Da wäre noch eine Sache. Das ermordete Mädchen hatte fünfhundert Mark bei sich. Das ist deutlich mehr Taschengeld, als ich damals bekam.»
«Was sagen die Eltern dazu?»
«Sie meinten, es müsse sich um einen Irrtum handeln.»
«Ich habe schon häufiger gehört, dass Geld aus den Taschen eines Toten verschwunden ist. Aber ich habe noch nie gehört, dass Geld hineingekommen wäre.»
«Nein, Chef.»
«Fragen Sie die Nachbarn, Bernie. Sprechen Sie mit den Schulfreundinnen. Finden Sie heraus, was für ein Mädchen Anita Schwarz war.»
«Ja, Chef.»
«Und, Bernie – besorgen Sie sich eine neue Krawatte. Die da sieht aus, als hätte sie in der Suppe gehangen.»
«Geht klar, Chef.»
Vor der Pressekonferenz ging ich ins KaDeWe und ließ mir die Haare schneiden. Nicht einmal Henry Ford hätte eine effizientere Methode des Haareschneidens gefunden. Es gab zehn Stühle, und in weniger als fünf Minuten waren meine Haare in Form gebracht. Das KaDeWe war vom Alex aus nicht gerade um die Ecke, doch es war ein gutes Kaufhaus, wo ich gleichzeitig eine neue Krawatte finden und mir die Haare schneiden lassen konnte.
Wie immer fand die Pressekonferenz im Polizeimuseum am Alex statt. Das war Gennats Idee gewesen, im Anschluss an die Polizeiausstellung 1926, sodass die Kripo sich der Welt inmitten von Fotografien, Messern, Reagenzgläsern, Fingerabdrücken, Giftflaschen, Revolvern, Seilen und anderen Dingen präsentierte – Exponate, die unsere zahlreichen stolzen Ermittlungserfolge belegten. Unsere Institution hätte wahrscheinlich noch moderner gewirkt, wären die Glasvitrinen mit den gerichtsmedizinischen Abfällen sowie die schweren Vorhänge, die die hohen Fenster der Ausstellungshalle verdunkelten, nicht so unglaublich verstaubt gewesen. Selbst die jüngste Fotografie, ein Bild von Ernst Gennat, sah aus, als hinge sie hier schon seit hundert Jahren.
Ungefähr zwanzig Reporter und Fotografen hatten sich eingefunden und zwischen den Vitrinen versammelt. Hinter einem Tisch, auf dem normalerweise kuriose Mordwaffen ausgestellt wurden, saß ich zwischen Weiß und Gennat, als hätte man uns der Größe nach positioniert. Die Männer der Berliner Presse hörten meinen Appell an mögliche Zeugen, die in der Nacht des Mordes einen verdächtigen Mann im Park von Friedrichshain gesehen hatten, und lauschten, während ich der Berliner Öffentlichkeit versicherte, dass wir alles in unserer Macht Stehende unternahmen, um den Mörder von Anita Schwarz zu fassen – wozu ich in der Tat fest entschlossen war. Die Dinge liefen recht gut, bis
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