Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das letzte Experiment

Das letzte Experiment

Titel: Das letzte Experiment Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Kerr
Vom Netzwerk:
trug ein graues Hemd, eine kurze graue Hose und zwei Rotzfäden an der Oberlippe. Ich schätzte ihn auf vielleicht acht Jahre.
    «Ein Mädchen, das ich kenne, ist gerade mit einem fremden Mann weggegangen!», sagte er aufgeregt. «Sie heißt Lotte Friedrichund ist zwölf Jahre alt, und der Mann ist nicht aus dieser Gegend. Er sah ganz gruselig aus und hatte so einen merkwürdigen Gesichtsausdruck. Es ist der gleiche Schlepper, der gestern meiner Schwester Süßigkeiten angeboten hat, wenn sie mit ihm spazieren geht.» Der Knabe zupfte drängend an meinem Ärmel und zeigte nach Westen in die Schendelgasse, bis ich mich einverstanden erklärte, nachzusehen. «Dort hinten!», rief er. «Sie trägt ein grünes Kleid und er einen Mantel. Sehen Sie die beiden?»
    Und tatsächlich, dort überquerten ein Mann und ein Mädchen soeben die Alte Schönhauser Straße. Der Mann hatte die Hand im Nacken des Mädchens, als wollte er sie in eine bestimmte Richtung führen. Der Mantel war nicht weniger verdächtig, da der Tag bereits jetzt warm war.
    Normalerweise wäre ich dem Knaben gegenüber misstrauischer gewesen. Andererseits wurde auch nicht jeden Tag ein junges Mädchen mit herausgeschnittenen Innereien tot aufgefunden. Niemand wollte, dass sich so etwas wiederholte.
    «Wie heißt du, Junge?», fragte ich.
    «Emil.»
    Ich gab Emil einen Groschen und zeigte in Richtung Bülowplatz.
    «Weißt du, wo der gepanzerte Wagen vor der Parteizentrale der Roten steht?»
    Emil nickte und wischte sich mit dem Ärmel die Rotzfäden aus dem Gesicht.
    «Ich möchte, dass du dort hinläufst und den Schupos im gepanzerten Wagen sagst, dass Kommissar Gunther vom Alex einem Verdächtigen in die Mulackstraße gefolgt ist und darum bittet, dass sie ihm zu Hilfe kommen. Hast du das verstanden?»
    Emil nickte erneut und rannte in Richtung Bülowplatz davon.
    Ich marschierte nach Westen, während ich meine Parabellum aus dem Halfter nahm, denn sobald ich die Mulackstraße erreicht hatte, befand ich mich mitten im Territorium von Ricci KammsBande. Vielleicht war ich nicht besonders vorsichtig, aber ich war nicht dumm.
    Der Mann und das Mädchen vor mir gingen schnellen Schrittes, sie bogen um eine Ecke. Ich hörte einen Schrei und rannte los, und ich kam gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie der Mann das Mädchen packte, bevor er geduckt in den Ochsenhof rannte. Vielleicht hätte ich auf die Verstärkung warten sollen, doch ich dachte immer noch an Anita Schwarz und das Mädchen im grünen Kleid. Außerdem war, als ich mich umdrehte, von der Kavallerie noch keine Spur zu sehen. Ich zog meine Pfeife hervor, blies mehrere Male hinein und wartete auf eine Antwort, doch nichts geschah. Entweder hatten sie keine Lust, einen Verdächtigen durch das gesetzlose Viertel von Berlin zu jagen, oder sie glaubten die Geschichte nicht, die der Knabe Emil ihnen erzählt hatte. Wahrscheinlich eine Mischung aus beidem.
    Ich lud die Parabellum durch, während ich durch eine schmale Tür in ein dunkles Treppenhaus gelangte und nach oben stieg.
    Der Ochsenhof, auch bekannt als Grill oder Viehschuppen, war eine Mietskaserne, die eine Fläche von mehr als einem Hektar bedeckte, und Unterschlupf für die schlimmsten Viecher der Stadt. Das Elendsviertel hatte mehr Ein- und Ausgänge als ein Schweizer Käse Löcher. Nachts rannten Ratten über die Balkone und wurden von halbverwilderten Kindern mit Luftgewehren und von Hunden gejagt. In Kellern liefen pausenlos illegale Destillen, während sich in den dreckigen grauen Hinterhöfen dicht an dicht selbstgezimmerte Hütten drängten, in denen ein Teil der vielen obdach- und arbeitslosen Bewohner der Stadt hauste. In dem dunklen, übelriechenden, gasbeleuchteten Treppenhaus saß eine Gruppe junger Männer beim Kartenspiel. Sie ließen Zigarettenstummel ringsumgehen.
    Ich starrte sie an, und sie starrten das Neun-Millimeter-Ass an, das ich in der Hand hielt.
    «Hat einer von euch einen Kerl hier reinkommen sehen, vor weniger als einer Minute?», fragte ich. «Er trägt einen hellen Mantelund einen Hut und hat ein Mädchen von vielleicht zwölf Jahren in einem grünen Kleid bei sich. Möglicherweise hat er das Mädchen entführt.»
    Niemand sagte ein Wort. Trotzdem hörten sie mir zu. Einem Mann mit Kanone sollte man besser zuhören.
    «Vielleicht hat sie einen Bruder, jemanden wie dich», sagte ich an den Kartengeber gewandt.
    «Niemand hat einen Bruder wie ihn!», sagte eine Stimme.
    «Vielleicht ist er außer sich, wenn seine

Weitere Kostenlose Bücher