Das letzte Experiment
Weg wie ein kleiner Express. «Einen Schnaps für Herrn Kommissar Gunther!», bestellte Adlon. «Vom Besten.»
Wir setzten uns. Es herrschte wenig Betrieb. Der alte Mann schenkte zwei Gläser bis zum Rand voll und prostete mir schweigend zu.
«Es gibt einen alten konfuzianischen Fluch», sagte er, nachdem wir getrunken hatten. «Er lautet: ‹Mögest du in interessanten Zeiten leben.› Ich würde sagen, wir leben in höchst interessanten Zeiten, meinen Sie nicht?»
Ich grinste. «Allerdings, mein Herr, das meine ich.»
«Angesichts dieser Tatsache sollen Sie wissen, dass es hier immer eine Arbeit für Sie gibt, Herr Gunther.»
«Danke sehr, Herr Adlon. Gut möglich, dass ich schon bald auf dieses Angebot zurückkomme.»
«Nein, Herr Gunther, ich danke
Ihnen
. Es mag Sie interessieren zu erfahren, dass ihr Vorgesetzter, Herr Dr. Weiß, sehr große Stücke auf Sie hält.»
«Ich wusste nicht, dass Sie und Herr Dr. Weiß sich kennen, Herr Adlon.»
«Wir sind alte Freunde. Er war es, der mich darauf aufmerksam gemacht hat, dass sich der Polizeidienst möglicherweise schon sehr bald auf eine Weise ändert, die wir uns noch nicht vorzustellen vermögen. Aus diesem Grund hielt ich es für angemessen, Ihnen mein Angebot zu unterbreiten. Die meisten meiner Hausdetektive sind, wie Sie wissen, pensionierte Polizeibeamte. Der Zwischenfall in der Bar hat mir klargemacht, dass der eine oder andere darunter seiner Aufgabe nicht mehr gewachsen ist.»
Wir saßen noch eine Weile beisammen und tranken den ausgezeichneten Schnaps, bis er sich entschuldigte, weil er zum Abendessen mit seiner Frau und ein paar reichen Amerikanern verabredet war. Ich suchte Frieda und fand sie im zweiten Stock in einem Korridor, der zum Anbau in der Wilhelmstraße führte. Sie trug ein elegantes schwarzes Abendkleid. Doch nicht mehr lange. Die kleineren, weniger teuren Zimmer lagen auf dieser Etage. Von hier aus hatte man einen Ausblick auf das Brandenburger Tor und dahinterdie Siegessäule am Königsplatz. Ich für meinen Teil hatte den allerbesten Ausblick. Und ich sah nicht einmal aus dem Fenster.
Ich versuchte Arthur Nebe aus dem Weg zu gehen. Das war nicht weiter schwierig gewesen, während ich die mit Hilfe des Teufelsverzeichnisses zusammengestellte Liste der Verdächtigen überprüft hatte. Doch im Alex war es gar nicht so einfach – auch wenn Nebe nicht zu den Ermittlern gehörte, die ihren Schreibtisch gern und häufig verließen. Er erledigte den größten Teil seiner Arbeit am Telefon, und weil ich eine Weile keine Anrufe annahm, gelang es mir, nicht mit ihm zu reden. Doch zwei Tage nach der Schießerei begegnete ich ihm im Treppenhaus vor den Toiletten.
«Was ist das?», fragte Nebe. «Hat schon wieder jemand auf Sie geschossen?» Er deutete auf die alten Einschusslöcher in der Wand. Wir wussten beide, dass sie seit 1919 dort waren, als die Freikorps den Alex gewaltsam aus der Hand der frisch gegründeten KPD befreit hatten. Es war eine sehr deutsche Angelegenheit gewesen. «Wenn Sie nicht aufpassen, verbringen Sie den Rest Ihres Lebens noch tot.» Er grinste. «Nun? Was ist passiert?»
«Nichts Besonderes, so etwas passiert in dieser Stadt jeden Tag. Ein Nazi-Bandit hat aus dem Hinterhalt auf mich geschossen, das ist alles.»
«Irgendeine Idee, warum?»
«Vielleicht, weil ich kein Nazi bin?», antwortete ich. «Aber vielleicht haben Sie eine bessere Idee?»
«Erich Hoppner. Ja. Ich habe ihn überprüft. Es sieht nicht aus wie ein politischer Fall, jetzt, wo Sie es erwähnen.»
«Woher wissen Sie das?»
«Sie sind nicht in der KPD, oder? Und er war nicht bei der SA.»
«Aber er war Mitglied in der NSDAP.»
«Viele sind Mitglied in der Partei, Bernie. Für den Fall, dass Sie es noch nicht bemerkt haben – bei der letzten Wahl haben elfeinhalb Millionen Wähler für die Nationalsozialistische Partei gestimmt.Nein, ich würde sagen, es hat mehr mit der Ricci-Kamm-Sache zu tun. Der Ochsenhof liegt in seinem Gebiet. Sie haben förmlich darum gebettelt, als sie dort hineingegangen sind.»
«Ich hatte die drollige Idee, die Scherereien verhindern zu können. So nennen wir Polizisten das, wenn ein richtiger Mensch ermordet wird. Nicht irgendein Krimineller mit einer Ideologie.»
«So viel für die Akten», sagte Nebe. «Aber unter uns gesagt – ich mag die Nazis auch nicht. Es ist nur so, dass ich die Kommunisten noch weniger mag. Wie ich das sehe, bleibt am Ende nur die Wahl zwischen den Nazis und den
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