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Das letzte Experiment

Das letzte Experiment

Titel: Das letzte Experiment Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Kerr
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kleine Schwester aufgeschlitzt und von Kannibalen in einer feuchten Mietbaracke aufgegessen wird», sagte ich. «Denkt darüber nach.»
    «Polypen!», sagte eine weitere Stimme im Halbdunkel. «Ihr Polypen seid die Letzten in Berlin, die sich noch um irgendwas scheren.»
    Der Kartengeber zeigte mit dem Daumen über die Schulter. «Sie sind raus und über den Hof.»
    Ich rannte ein paar Treppenstufen hinauf und nach draußen in den Hinterhof. Irgendetwas zischte an meinem linken Ohr vorbei, und ich hörte einen Knall, wie die Fehlzündung eines Lastwagens. Eine halbe Sekunde später registrierte mein Gehirn ein Aufblitzen auf einem Balkon im dritten Stock, und bevor ich wusste, wie mir geschah, sprang ich hinter die auf der Wäscheleine flatternden Bettlaken in Deckung. Ich blieb nicht stehen, sondern kroch auf Händen und Knien weiter, als ich einen weiteren Schuss hörte und eine Kugel durch das Laken zischte, hinter dem ich eine Sekunde vorher noch gekauert hatte. Ich krabbelte weiter bis zum Ende der Leine und sprintete anschließend wie Georg Lammers in ein weiteres Treppenhaus. Mehrere zerlumpte Gestalten, die im Schatten kauerten, starrten mich ängstlich an. Ich ignorierte sie und jagte zur dritten Etage hinauf. Von einem Schützen war keine Spur zu sehen, zu hören hingegen war, wie ein Paar schwerer Stiefel drei oder vier Stufen auf einmal nehmend die Treppe hinuntersprang. Wütend machte ich mich an die Verfolgung. Ein paar Leute waren auf dieumlaufenden Balkone getreten, um zu sehen, was der Tumult sollte, doch die Vernünftigeren blieben in ihren Ställen.
    Als ich unten ankam, zögerte ich kurz, bevor ich ein paar Planken umstieß, die an der Wand lehnten, um auf diese Weise das Feuer des Schützen abzulenken. Inzwischen hatte ich eine gute Vorstellung davon, womit ich es zu tun hatte. Ein deutsches Mauser-Gewehr 98 vom Kaliber 7.92 × 57   mm . Während des Krieges hatte ich es oft genug gehört, um es am Schuss zu erkennen. Das Gewehr 98 war eine relativ genaue Waffe, doch wegen seines besonderen Verschlusses nicht für Schnellfeuer geeignet. Und in den Sekunden, die der Schütze zum Nachladen benötigte, war ich aus dem Treppenhaus heraus und feuerte selbst. Die Parabellum war im Gegensatz zum Mauser G98 nicht gerade langsam.
    Der erste Schuss verfehlte ihn. Der zweite ebenfalls. Als die Parabellum schließlich bereit war für einen vierten, war ich nah genug heran, um das Muster auf seiner Fliege zu sehen. Es passte zu dem Muster auf seinem Hemd und dem Muster auf seinem Mantel: rote Punkte. Gehört normalerweise nicht zu meinen Lieblingsmustern, doch ihm standen sie ganz ausgezeichnet. Insbesondere, weil sie durch das Loch zustande gekommen waren, das ich ihm mit meiner dritten Kugel ins Gesicht geschossen hatte. Er war tot, noch bevor er auf dem Boden aufschlug.
    Das war bedauerlich, und zwar aus zwei Gründen. Einer war, dass ich seit der Schlacht von Amiens am 23.   August 1918, als ich einen Australier erschossen hatte – möglicherweise auch mehr als einen   –, keinen Menschen mehr getötet hatte. Ich hatte mir geschworen, nie wieder zu töten, als der Krieg vorbei gewesen war. Der zweite Grund war, dass ich den Toten gern verhört und aus ihm herausbekommen hätte, wer seine Hintermänner waren. Wer ihn beauftragt hatte, mich zu töten. Stattdessen musste ich seine Taschen durchwühlen, und all das unter den neugierigen Augen einer rasch wachsenden Menge Schaulustiger und Aasgeier, die aus ihren Baracken gekommen waren.
    Er war groß, dünn und hatte nur noch wenig Haare auf dem Kopf. Sämtliche Zähne hatte er bereits verloren. Im Augenblick seines Todes musste seine Zunge eine der Gebissplatten aus seinem Mund gedrückt haben. Sie saß nun auf seiner Oberlippe wie ein rosafarbener Plastikschnurrbart.
    Ich fand seine Brieftasche. Der Name des Toten war Erich Hoppner, und er war seit 1930   Mitglied in der NSDAP gewesen. Sein Mitgliedsausweis trug die Nummer 510934.   Was nicht bedeutete, dass er nicht auch Mitglied von Ricci Kamms Bande sein konnte. Es war nicht ungewöhnlich, dass Kriminelle aus der Berliner Unterwelt für politische Morde angeheuert und bezahlt wurden. Die Frage war – wer hatte den Mord befohlen? Die Allzeit Getreuen? Weil ich ihren Anführer mit einer Gurke verprügelt hatte? Oder die Nazis, weil ich ihrem Joseph Goebbels nicht hatte helfen wollen?
    Ich nahm Hoppners Brieftasche – und sein Gewehr, seine Uhr und seinen Ring – und ließ seine Leiche liegen. Die

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