Das letzte Experiment
Geier machten sich bereits über seine falschen Zähne her, noch bevor ich den Ochsenhof verlassen hatte. Falsche Zähne waren ein kostspieliger Luxus für Leute, die im Ochsenhof wohnten.
Am Bülowplatz stritt der verantwortliche Hauptwachtmeister der Schupo-Gruppe ab, eine Nachricht von einem kleinen Jungen erhalten zu haben. Ich beauftragte ihn, mit einigen seiner Leute zum Ochsenhof zu gehen und den Leichnam von Hoppner zu bewachen, bevor er aufgegessen wurde. Der PHW willigte sichtlich widerwillig ein.
Danach fuhr ich zum Alex. Zuerst stattete ich der Inspektion J einen Besuch ab, wo das Strafregister verwaltet wurde und ich mit Hilfe des diensthabenden Kriminalsekretärs herausfand, dass Erich Hoppner keine Vorstrafen hatte. Das war überraschend. Anschließend ging ich nach oben und übergab den politischen Jungs von Abteilung Ia Hoppners Parteiausweis. Natürlich hatten sie ebenfalls noch nie von ihm gehört. Ich ging in mein Büro, tippte meinen Bericht und gab ihn Gennat. Ich wurde in ein Vernehmungszimmer gebrachtund von Gennat und zwei Polizeiräten vernommen, Gnade und Fischmann. Meine Aussage wurde zu den Akten genommen für den späteren Vergleich mit den Erkenntnissen einer unabhängigen Ermittlungsgruppe. Weiterer Papierkram folgte. Dann wurde ich erneut befragt, diesmal von Kriminaloberkommissar Müller, der die ermittelnde Gruppe leitete.
«Klingt ganz danach, als hätte man Sie richtig hübsch aufs Kreuz legen wollen», beobachtete Müller. «Und Sie haben das Mädchen mit dem grünen Kleid nicht wiedergesehen?»
«Nein. Nach der Schießerei sah ich offen gestanden keinen Sinn mehr darin, nach ihr zu suchen.»
«Und der Junge? Emil? Der Knabe, der Sie geködert hat?»
Ich schüttelte den Kopf.
Müller war ein großer Mann mit reichlich Haar, das allerdings nur noch seitlich am Kopf wuchs und nicht mehr obendrauf.
«Die Kerle haben Sie jedenfalls ganz schön sauber ausgerechnet», sagte er. «Das Einzige, was gefehlt hat, war ein ‹M› auf dem Mantel des Toten. Wie in diesem Film mit Peter Lorre. Da ist es auch ein Junge, der dem Polizisten einen Tipp wegen Lorre gibt.»
«Hab ich nicht gesehen.»
«Sie sollten mehr ausgehen.»
«Na klar. Vielleicht kauf ich mir ein Pferd.»
«Die Sehenswürdigkeiten besuchen.»
«Hab ich schon. Außerdem sollte ich hin und wieder mal wegsehen. Es ist nicht gut für einen Polizisten in diesem Land, wenn er zu genau hinsieht. Jedenfalls kriege ich das ständig von allen Seiten zu hören.»
«Sie reden, als hätten die Nazis die Wahl schon gewonnen, Bernie.»
«Ich hoffe ja nicht, dass es so sein wird. Aber ich mache mir Sorgen. Ich hab sieben Laibe Brot und fünf Fische, die mir sagen, dass es diesmal mehr braucht als nur einen glücklichen Zufall. Wäre ichkein Polizist, würde ich vielleicht auf ein Wunder hoffen. Aber ich bin einer, und deswegen hoffe ich nicht. In diesem Beruf lernt man sie alle kennen: die Faulen, die Dummen, die Trägen, die Grausamen und die Gleichgültigen. Unglücklicherweise ist das genau das, was man unter dem Begriff ‹Wählerschaft› zusammenfasst.»
Müller nickte. Er war ein SP D-Mann wie ich. «Haben Sie schon die guten Neuigkeiten gehört? Über Joseph Goebbels? Die Wohnung seiner Frau Magda wurde leer geräumt. Ihr gesamter Schmuck ist verschwunden.» Müller grinste. «Soll man es für möglich halten?»
«Warum denn nicht? Wer auch immer es getan hat, sie sollten ihm den Blauen Max verleihen.»
Ich brauchte etwas zu trinken, ich brauchte weibliche Gesellschaft, und ich brauchte wahrscheinlich auch eine neue Arbeit. Wie die Dinge standen, landete ich genau am richtigen Ort für meine Probleme. Im Hotel Adlon.
In der prachtvollen Eingangshalle angekommen, blickte ich mich nach Frieda um. Sie war nirgendwo zu sehen. Stattdessen kam Louis Adlon auf mich zu. Er trug eine weiße Binde und einen Frack und im Knopfloch eine weiße Nelke, die zu seinem Schnurrbart passte. Er war kein großer Mann, doch er war Zentimeter für Zentimeter ein Ehrenmann.
«Kommissar Gunther!», begrüßte er mich. «Wie schön, Sie zu sehen. Sie müssen mich für unhöflich halten, weil ich Ihnen noch nicht gedankt habe dafür, wie Sie mit diesem Ganoven in meiner Bar umgesprungen sind! Ich hatte gehofft, dass wir uns begegnen und ich Ihnen meinen Dank persönlich aussprechen könnte.» Er deutete zur Bar. «Haben Sie einen Augenblick Zeit?»
«Mehrere.»
In der Bar winkte Adlon nach einer Bedienung, doch sie war bereits auf dem
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