Das letzte Geleit: Kriminalroman (German Edition)
E-Mail geschrieben. Dass sie schon eine Weile getrennt lebten, sie und Martin, hatte sie geschrieben. Dass alles etwas kompliziert sei, aber dass sie ihn, Theo, sehr gern habe.
Er hatte zurückgeschrieben, dass er sie auch sehr mögen würde, und ein richtiges Date vorgeschlagen. Schick essen gehen und hinterher in eine Bar. Aber dazu war es bisher nicht gekommen. Stattdessen war sie für eine Woche zu ihren Eltern in den Harz gefahren. Seit vorgestern sollte sie wieder zu Hause sein. Aber sie hatte sich nicht gemeldet. Theo wurde nicht schlau aus ihr. Er war sich sicher gewesen, dass sie auch etwas für ihn empfand. Und jetzt diese Funkstille. »Lass ihr ein bisschen Zeit«, hatte Lars ihm geraten, »aber nicht zu lange.«
Theo wählte ihre Nummer.
Hanna trat auf den kleinen Balkon ihrer Altbauwohnung hinaus. Sie lehnte sich an das Geländer und umfasste die wärmende Kaffeetasse mit beiden Händen. Ihr gegenüber blickte die alte Frau Weiß aus dem Fenster. Sie war in ihrer kleinen Wohnung geboren worden und hoffte, auch darin zu sterben. Ihre Kinder hatten sie schon lange gedrängt, in ein Altersheim oder wenigstens in eine Parterrewohnung umzuziehen, doch Grete Weiß hatte sich erfolgreich dagegen gewehrt. Seit ihre Hüfte immer schlimmer geworden war, ging sie kaum noch aus dem Haus, das keinen Aufzug hatte. Um die Treppen vom vierten Stock hinunter zu bewältigen, brauchte sie eine gute Stunde, nach oben ging es etwas schneller. Zweimal in der Woche schaute ihre Tochter vorbei, um ihr Essen und Lektüre zu bringen und ein Stündchen mit ihr zu plaudern. Und jeden zweiten Tag kam Milena, die portugiesische Zugehfrau, um Wäsche zu waschen und zu bügeln, zu putzen und kleine Besorgungen zu erledigen. Dabei berichtete sie in einem unaufhörlichen Redefluss von ihrem Mann, der kurz vor der Rente seine Arbeit als Betriebsschlosser verloren hatte, von ihren zwei Töchtern, die ihre sorgenvolle mütterliche Phantasie auf Trab hielten, und dem turbulenten Leben ihrer anderen Arbeitgeber. Grete Weiß verfolgte dieses Leben aus zweiter Hand mit Interesse. Ihr genügte das. Sie besaß nicht einmal einen Fernseher, sie hörte lieber Radio oder las ein Buch. Noch lieber aber saß sie am Fenster und blickte auf das Treiben in ihrer Straße hinunter. Von ihrem Beobachtungsposten aus betrachtete sie das Leben in der Nachbarschaft. So war auch sie diejenige gewesen, der als Erste aufgefallen war, dass sich in der Wohnung von Mathilde Hermann schräg gegenüber nichts mehr rührte. Sie hatte die Polizei informiert, die die mit einem Hüftbruch hilflos in der Wohnung liegende Frau nach zwei Tagen befreit hatte.
Einer der wenigen Nachbarn, die sie persönlich kannte, war die junge Frau von gegenüber, die wie so oft auf ihrem Balkon stand und rauchte. Hanna hatte ihr an einem schönen Sommertag vor drei Jahren einen spontanen Besuch abgestattet, nachdem sie einander ein Jahr lang von Fenster zu Balkon gegrüßt hatten. Auch heute hob Grete die Hand. Hanna lächelte und prostete ihr mit der Kaffeetasse zu. Trotz der Distanz von gut fünfzehn Metern quer über die Straße merkte Grete, dass die junge Frau weniger gelassen wirkte als üblich. Schon seit zwei Tagen sah sie sie unruhig durch die Wohnung geistern – und sie rauchte auch deutlich mehr als sonst, hatte sie besorgt bemerkt. Sie wusste, dass Hanna Winter Journalistin war, und sah sie meist Stunde um Stunde emsig an ihrem Schreibtisch vor dem Fenster sitzen. Diesmal schien es nicht so recht voranzugehen mit dem Schreiben.
Tatsächlich kämpfte Hanna seit mehr als einer Woche mit ihrem Artikel. Außerdem spukte ihr auch noch die Sache mit Theo durch den Kopf. Viel hatten ihre Eltern bei ihrem Besuch nicht von ihr gehabt. Normalerweise war Hanna eine schnelle Schreiberin, aber diesmal lag die Sache anders. Sie hatte eine eindrucksvolle Flut von Fakten gesammelt, doch der entscheidende Beweis fehlte: Dass Bergman und Sven von Vries ein und dieselbe Person waren, ließ sich nicht eindeutig nachweisen. Und damit brach die ganze Beweiskette zusammen. Sie versuchte, einen Artikel zu schreiben, der Bergman an den Pranger stellte, ohne sich dafür eine Unterlassungs- oder gar Verleumdungsklage einzuhandeln. Doch was sie bis jetzt zuwege gebracht hatte, würde ihr kein Chefredakteur abkaufen. Die Story war purer Sprengstoff. Aber ohne Beweis würde sie einem ganz einfach um die Ohren fliegen.
Hanna ließ ihren Blick über ihre Straße schweifen. Obwohl unweit der vierspurigen
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