Das letzte Geleit: Kriminalroman (German Edition)
Leuchtturm?, dachte Anna
»Anna hat Leuchttürme immer geliebt. Ich bin sicher, die Leute werden nicht allzu überrascht sein, sie dort zu finden.«
Sie mühte sich, die Augen offen zu halten. Wenn ihr die Augen zufielen, würde sie einschlafen, und wenn sie einschlief, würde sie sterben. Sie versuchte, sich auf die im Mondlicht dahinziehenden Wolken zu konzentrieren. Eine sah aus wie die junge Line mit wehenden Zöpfen. In einer anderen erschien ihr Majas Gesicht, nicht so, wie sie es vor ein paar Stunden – oder waren es Tage? – gesehen hatte, sondern als es noch voller Leben gewesen war. Anna dachte an Fatih, ihren Freund Fatih, der wohl nun sein Abitur ohne ihre Hilfe schaffen musste. Sie dachte an Erik, ihren Sohn, dem sie nicht genug Liebe hatte schenken können. Und an Entchen, wie sie an der Schaukel im Garten ihrer Eltern hin und her schwang, immer höher, oder war sie selbst es, Anna, die da schaukelte? Ihre Gedanken verschwammen. Sie bekam kaum noch mit, wie sie erneut aus dem Boot gehoben wurde und man sie auf Gras bettete. Unvermittelt wurde ihr unerträglich heiß. Am liebsten hätte sie sich die Kleider vom Leib gerissen. Doch obwohl Fitzpatrick die Gurte, die sie bewegungslos gemacht hatten, bereits entfernt hatte, war sie zu schwach.
»So, kleine Anna, da habe ich dich doch an ein Plätzchen gebracht, das dir gefallen dürfte.« Sorgfältig drapierte von Vries Annas Daunenmantel und die Pudelmütze, als hätte sie sie in einem widersinnigen Bemühen, sich Kühlung zu verschaffen, abgestreift. Er wusste, dass Erfrierende gegen Ende häufig ein starkes Hitzegefühl entwickelten. Die – gemessen an Annas sonstiger Kleidung – erstaunlich elegante Tasche ließ er ein Stück weiter liegen.
Das Tuckern eines sich entfernenden Motors war das Letzte, was Anna in ihrem Leben hörte. Sie schlug noch einmal die Augen auf und sah über sich den Leuchtturm aufragen. Er schickte einen Lichtstrahl in die Nacht.
Wie merkwürdig, dachte Anna, der ist doch schon lange stillgelegt. Dann schwang sich ihre Seele auf und glitt über dem unwirklichen Licht hinauf zu den Sternen.
Sonnabend, 17. Januar 2009
»Unten liegt Fräulein Huber auf der Couch und schnarcht.« Die Kinderstimme bohrte sich in Theos Schädel wie ein Wattwurm in den Nordseeschlick.
»Lass mich in Ruhe, Lilly.« Er tastete blind nach einem Kissen und zog es sich über den Kopf.
»Es ist schon sieben Uhr achtundvierzig, und ich habe Hunger.«
»Frag Fräulein Huber«, tönte es dumpf unter dem Kissen hervor. Er spürte, wie sich Lillys federleichter Körper auf das Bett schmiss. Eine Kinderhand lüpfte erbarmungslos einen Zipfel des Kissens.
»Theo. Theooo!«
Er grunzte.
»Warum ist Fräulein Huber überhaupt hier?«
»Ich musste gestern noch mal weg.« Theo kapitulierte und tauchte unter seiner Federkissenbastion auf. »Und damit dich keiner klaut, hab ich Fräulein Huber angerufen. Obwohl es für alle Beteiligten das Beste gewesen wäre, wenn dich jemand verschleppt hätte.«
»Quatsch«, kicherte Lilly, zufrieden mit dem Erfolg ihrer Mission. »Machst du mir jetzt Frühstück?«
Es war spät geworden in der Nacht. Sie hatten alle mit aufs Revier gemusst, wo zwei Beamte Selçuk mit hochgezogenen Augenbrauen empfingen.
»Also, doch was ausgefressen«, hatte der Stan-Laurel-Verschnitt ihre Ankunft kommentiert.
»Von wegen.« Selçuk hatte stolz die Brust gereckt. »Wir haben einen Killer zur Strecke gebracht!«
Hadice knuffte ihn von hinten. »Pass auf, dass du dir keine Verleumdungsklage einhandelst, Junge.«
Bergman hatte irritiert gewirkt, als er Theo erblickte.
»Was haben Sie denn mit dieser Diebesbande hier zu tun?«
»Das wird sich klären.« Theo war fix und fertig. Er wollte nur noch nach Hause. Stattdessen musste er die ganze Geschichte haarklein zu Protokoll geben. Es war nur gut, dass Hadice einiges bestätigen konnte. Sonst hätte man ihn und die Jungs vermutlich eingebuchtet, argwöhnte er. Der schreckliche Kopf wurde sorgfältig in der Asservatenkammer verstaut. Hadice hatte ihn gleich vor Ort als Beweismittel beschlagnahmt. Zuvor hatte sie sich bei seinem Anblick aber höchst unprofessionell auf den Kiesweg übergeben.
Nachdem Theo an diesem Morgen das Löwenjunge abgefüttert und getränkt hatte (Müsli, extra viel Kakao, wenig Zucker), griff er zum Hörer, um Hanna anzurufen. Er hatte sie seit der Knutscherei vor fast drei Wochen nicht zu Gesicht bekommen.
Nach der Begegnung mit ihrem Mann hatte sie ihm eine
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