Das letzte Geleit: Kriminalroman (German Edition)
Dosierung.
»Sie sieht aus, als hätte sie eine Woche im Solarium gelegen.«
Theo musste lachen.
»Das ist nicht witzig.« Aber jetzt grinste auch May. Wenn auch schief.
»Theo, das Essen«, rief Lilly.
Er zog den Wok vom Herd und öffnete den Deckel des Reistopfs. Sofort schlug ihm ein Schwall heißen Dampfes entgegen. Nachdenklich sah er zu, wie er in der Abzugshaube verschwand.
»Grübelst du immer noch über Anna Florin nach?«, fragte May.
Theo probierte das etwas matschige Curry und verbrannte sich prompt den Mund. Aus den Augenwinkeln hatte er gesehen, wie Nadeshda im Türrahmen stand. Er fuhr herum und starrte sie an. Von dem hoch erhobenen Löffel tropfte etwas Soße. Bislang war Nadeshda nie aufgetaucht, wenn andere Menschen anwesend waren. Vorwurfsvoll blickte sie ihn an. Obwohl ihre Lippen sich nicht bewegten, hörte Theo ihre Stimme im Zentrum seines Hirns. »Menschenskind, unternimm endlich etwas!« Theo war klar, worum es ihr ging. Er sollte sich um Annas mysteriösen Tod kümmern.
»Theo!« May packte seinen Arm. »Geht’s dir nicht gut? Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen oder so was.«
»So in etwa«, sagte er schwach. Er starrte noch immer auf den leeren Türstock. Lilly nutzte die Gelegenheit und zog unauffällig die Schale mit den Krabbenchips zu sich heran.
May runzelte die Stirn. »Was meinst du damit?«
»Nadeshda«, gestand er, »ich habe gerade Nadeshda gesehen. Da in der Tür.«
»Cool«, sagte Lilly und biss in einen Krabbenchip.
Nach dem Essen schickte May die schmollende Lilly vor den Fernseher – ein Umstand, der Theo klarmachte, dass es jetzt ans Eingemachte ging.
»Mein Lieber, dass du einen Knall hast, weiß ich ja schon lange. Aber nicht, dass es soo ein Knall ist. Ein Riesenknall.«
»May, du weißt genau, dass viele Menschen ihre verstorbenen Angehörigen sehen. Das ist ein ganz verbreitetes Phänomen. Die Sehnsucht lässt in unserem Hirn lebensechte Bilder entstehen oder so was.«
May wedelte ungeduldig mit der schmalen Hand. »Mag sein. Aber nicht – wie lange ist Nadeshda jetzt tot?«
»Vier Jahre.«
»Aber keine verdammten vier Jahre lang!«
Theo schwieg.
»Vielleicht bist du ja auch schizophren. Du weißt schon. Halluzinationen, Stimmen hören – all das Zeug.«
In ihrem Tonfall schwang ein ungewohnter Hauch von Besorgnis mit, der ihn rührte.
»Unsinn. Für den Ausbruch einer Schizophrenie bin ich schon ein bisschen alt, meinst du nicht?«
May schwieg.
»Und außerdem: Was ist mit den anderen Symptomen? Kein Verfolgungswahn. Keine Paranoia. Keine Denkstörungen. Kein Rückzug aus dem Sozialleben. Nichts. Abgesehen von Nadeshdas Besuchen bin ich komplett normal.«
»Abgesehen davon.«
Später im Bett fragte er sich, warum er sich nicht längst an einen befreundeten Psychiater gewandt hatte. Er grübelte, dabei war ihm die Antwort längst klar: Er klammerte sich an Nadeshdas Besuche. Obwohl die Erscheinungen ihm anfangs Angst gemacht hatten, obwohl sie ihn noch immer schmerzten. Er hing an ihnen, weil sie alles waren, was er von ihr noch hatte, außer seinen Erinnerungen und dem Grabstein im hinteren Eck von Finkenriek. Er lächelte im Dunkeln über sein Selbstmitleid. Er war noch nicht bereit, sich von Nadeshda zu verabschieden. So einfach war das. Und Psychopharmaka würden den Besuchen wahrscheinlich ein Ende machen.
Allerdings: Was, wenn die Medikamente dem Spuk unerwarteterweise kein Ende machten? Müsste er sich dann ernsthaft mit dem Gedanken an übernatürliche Phänomene auseinandersetzen? Bislang hatte er es vermeiden können, seine persönliche Haltung zu solchen Dingen festzuzurren. Er gefiel sich im Schwebezustand religiöser Unentschiedenheit. Er glaubte an die Möglichkeit von allem Möglichen. Ein Leben nach dem Tod. Seelenwanderung. Das Nichts. Mit sechzehn war ihm die Bedeutung Einsteins berühmter Formel e = mx c² aufgegangen. Wenn Masse, also alles Stoffliche, jedes Haus, jeder Planet, jeder Mensch, nichts weiter war als eine Form kristallisierter Energie, war so gut wie alles denkbar. Sogar der liebe Gott. Sogar, dass Nadeshdas Geist durch sein Leben wehte.
»Beam me up, Nadeshda«, dachte er.
Ruhelos wälzte sich Theo im Bett herum. Immer wenn er die Augen schloss, sah er Annas toten Körper vor sich, wie er kalt und stumm auf der Stahlbahre lag. Als er endlich eindöste, schlug Anna in seinem Traum die Augen auf und blickte ihn vorwurfsvoll an. Er erwachte mit einem lautlosen Schrei.
Sonntag,
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