Das letzte Geleit: Kriminalroman (German Edition)
Theo, es gibt doch überhaupt keinen konkreten Hinweis für einen Mord.«
»Na eben, darum suchen wir ja nach einem.«
Lars seufzte. »Immerhin, ihr habt Glück. Erik Florin hat mir gesagt, dass Anna Fatih ihren Computer vermacht hat. Insofern ist er wohl sogar halbwegs berechtigt, darin herumzustöbern.«
»Mir hat noch nie jemand was vererbt.« Fatih wandte sich ab. Er wollte nicht, dass die beiden Männer sehen konnten, dass ihm Tränen in die Augen gestiegen waren. »Dann mach ich mal einfach weiter«, sagte er mit belegter Stimme.
»Und du kannst dich inzwischen ein bisschen nützlich machen und mir beim Einpacken helfen. Ich bin sicher, ohne dich kommt Fatih auch ganz gut klar«, sagte Lars, dem der Schmerz des Jungen nicht entgangen war.
Zwei Stunden später waren sie gut vorangekommen – sowohl mit der Computerrecherche als auch mit der Wohnungsauflösung. Um den 60er-Jahre-Resopaltisch geschart tranken sie eine Tasse Kamillentee – etwas anderes war nicht im Hause. »Schmeckt gar nicht mal so schrecklich.« Theo ließ den Tee im Mund kreisen wie ein Weinconnaisseur. »Ich glaube, den letzten Kamillentee hat mir Fräulein Huber serviert, als ich mit zwölf Jahren Grippe hatte.«
Durch die geöffnete Tür konnten sie ins Wohnzimmer schauen. Dort stapelten sich an der Wand die Kisten mit Annas Habseligkeiten – Überreste eines 83 Jahre währenden Lebens, verpackt in anderthalb Kubikmeter. Lars hatte sie nach ihrer Wiederverwertbarkeit sortiert: ein Sammelsurium an Besteck und Porzellan, in dem kaum ein Stück zum anderen passte, uralte Emailletöpfe, eine gusseiserne Pfanne. Darüber hinaus gab es allein fünfzehn Bücherkisten, die alte Ausgaben von Dostojewski, Turgenjew und Tolstoi enthielten. Ein altes, schön bebildertes Märchenbuch von Andersen hatte Lars für Entchen beiseitegelegt. Und viele Klassiker der politischen Sozialliteratur von Solschenizyns »Archipel Gulag« bis zum »Tod im Reisfeld« von Peter Scholl-Latour.
Neben Klassikern hatte Anna auch aktuelle literarische Werke gelesen – Judith Hermanns Kurzgeschichten und sogar ein paar Harry-Potter-Bände waren darunter. Auf ihrem Nachttisch hatte Theo »Die souveräne Leserin« von Alan Bennett gefunden. Ein rotes, leinengebundenes Bändchen, auf dessen Titel die Queen neugierig um eine Ecke spähte. Er hatte es im vergangenen August in einer kleinen Buchhandlung entdeckt, begeistert gelesen und sofort an alle seine Freunde verschenkt. Auf dem schmalen Buch ruhte noch die Lesebrille. Es waren solche Indizien, die ihm in der Wohnung von Verstorbenen an die Nieren gingen: letzte Lebenszeichen eines Menschen, der nicht mehr war.
»Es ist immer spannend, was die Bücher, die ein Mensch besitzt, über ihn erzählen«, sagte Lars.
»Und was verraten die Ihnen über Anna?«, wollte Fatih wissen.
»Dass sie ein Mensch mit Gewissen und Engagement war. Eine alte Frau, die sich weiter dafür interessiert hat, was neue Autoren produzieren. Und ein Mensch mit Geist und Humor.«
»Ja, genauso ist sie gewesen«, sagte Fatih schlicht.
»Für eine alte Dame hat sie außerdem erstaunlich wenig Nippes besessen. Ihr wisst schon: Porzellanhündchen, Spitzendeckchen und ähnlicher Kram. Das hier ist die einzige Ausnahme.« Er hielt ihnen eine große gläserne Schneekugel hin. Darin stand ein schlanker rot-weiß geringelter Leuchtturm. Fatih lächelte und nahm die Kugel vorsichtig in die Hand. Er schüttelte sie und ließ den Turm im Schneegestöber versinken. »Anna stand total auf Leuchttürme«, erklärte er. »Ein Licht in der Dunkelheit, das fand sie tröstlich. ›Wäre ich nicht schon Ärztin, ich würde Leuchtturmwärterin werden‹, hat sie immer gesagt. Insofern war die Bunthäuser Spitze nicht der schlechteste Ort für sie zum Sterben.«
»Erstaunlich ist auch: Sie hat so gut wie keine Fotos aufgehoben. Ich habe gerade mal eine Schachtel voll für die Familie zusammensuchen können.« Lars stellte einen Schuhkarton auf den Tisch. Darin lagen vielleicht dreißig Bilder. Nachdenklich blätterte Theo sie durch und reichte sie dann an Fatih weiter. Der Großteil war offenbar in Ländern aufgenommen worden, in denen Anna als Ärztin ohne Grenzen gearbeitet hatte. Dunkle Gesichter, in denen weiße Zähne blitzten. Außerdem zwei Hochzeitsfotos. Ein leicht rotstichiges zeigte einen deutlich jüngeren Erik Florin in einem modischen Cordanzug mit schmissigem Schlag. Am Revers steckte eine rosafarbene Nelke. Schüchtern lächelte er in die Kamera.
Weitere Kostenlose Bücher