Das letzte Geleit: Kriminalroman (German Edition)
deren Gesicht vom Weinen fleckig und verquollen war. Halt suchend umklammerte sie die kleine Hand ihrer Tochter. »Weißt du noch? Die Schlange ist gewachsen und hat ihre alte Haut einfach liegen gelassen.« Entchen schien nicht überzeugt. »Aber das hier ist ja nicht bloß Omis Haut.« Dann lächelte sie, sich einer plötzlichen Erkenntnis erfreuend. »Der Körper ist eben zu schwer, oder? Den kann man nicht mitnehmen. Sonst kann man ja gar nicht auf einer Wolke sitzen. Die sind nämlich nur aus Wasserdampf«, sagte sie belehrend zu Theo.
»Schau mal.« Theo hielt dem Kind eine Schale hin. Darin lagen Glassteine in unterschiedlichen Formen und Farben: bunte Herzen, Blumen und Sterne. »Wenn du dir zwei gleiche aussuchst, dann geben wir einen der Uromi mit. Den anderen darfst du behalten. Dann kannst du immer an sie denken.« Entchen wählte zwei himmelblaue Sterne mit kleinen goldenen Einsprengseln. Andächtig legte sie einen der Toten auf die Brust. Auch ihre Mutter Johanna wählte einen Gedenkstein. Erik Florin verzichtete.
Freitag, 19. Dezember 2008
Am nächsten Tag trafen sie sich wieder im Krematorium. Da weder Anna noch ihre Familie Kirchenmitglieder waren, übernahm Theo es, eine kleine Ansprache zu halten. Im Hintergrund lief leise klassische Musik, ein melancholisches Klavierstück von Debussy.
»Liebe Familie Florin«, sagte er. »Der Tod bedeutet, dass das, was einen Menschen lebendig und einmalig macht, stirbt. Mit dem Tod von Anna Florin verschwinden ihr Lachen, ihre Stimme, ihre einzigartige Art. Alles, was für uns Lebendigkeit bedeutet, erlischt mit dem Tod. Vielleicht hoffen wir, dass der Teil, den wir Seele nennen, weiterlebt, auch wenn wir nicht genau wissen, wie und wo.«
Johanna holte tief und zitternd Luft. Sie dachte an die Ausflüge, die sie mit Anna nach Hagenbecks Tierpark gemacht hatte. Sie dachte an das Elefantenbaby, das sie so gemocht hatte. Jamila hatte es geheißen. Sie beschloss, Jamila gemeinsam mit Entchen zu besuchen. Wahrscheinlich lebte sie noch. Elefanten wurden alt.
»Wenn wir jetzt den Körper von Anna Florin dem Feuer übergeben«, fuhr Theo fort, »bedeutet das, von ihr Abschied zu nehmen. Das ist schmerzlich, aber wichtig. Denn es ist eines der letzten Dinge, die wir für einen Menschen tun können: Ihn am Ende nicht allein zu lassen.«
Die Familienmitglieder legten jeder eine Hand auf den Sargdeckel und dachten an Anna. Erik dachte an seine Mutter, als sie jung gewesen war, eine wunderschöne, heiß geliebte, aber unerreichbare Frau für den kleinen Jungen. Eine Mutter, die stets unterwegs war und nur für einen Zwischenstopp bei ihrem Kind vorbeischaute. ›Es hat mir bei Line an nichts gemangelt‹, sprach er in Gedanken zu ihr. ›Nicht an Essen, nicht an Kleidung, nicht an Wärme und nicht an Liebe. Und doch hätte ich dich gebraucht. Mama.‹
Renate dachte zerstreut an die Weihnachtseinkäufe, die sie noch erledigen wollte. Da Erik und seine Mutter ein kompliziertes Verhältnis gehabt hatten, war auch ihr die Mutter ihres Mannes fremd geblieben. Johanna dachte mit Liebe und Schmerz an ihre Großmutter. Sie erinnerte sich an den Tag, an dem Anna von einem ihrer Einsätze in Afrika zurückgekommen war, braun gebrannt und voller Tatendrang. Anna hatte ihr eine Kette mitgebracht, die aus hölzernen, bunt bemalten Tieren bestand. Sie war Johannas größter Schatz gewesen, und sie trug sie auch heute. Ihre linke Hand, die nicht auf dem Sargdeckel ruhte, umklammerte das rote Glasherz, das sie sich ausgesucht hatte. Entchen streichelte das Kopfende des Sargs.
»Tschüss, Uromi«, flüsterte sie und fing bitterlich an zu weinen.
Auch aus diesem Grund wollte die Familie dem Einfahren des Sargs in den Ofen nicht zusehen. Entchen musste unter Wehklagen aus dem Raum getragen werden. Theo begleitete sie. Der Kummer des Kindes schnürte ihm die Kehle zu.
So blieb Charly, der Kremierer, allein zurück. Die Anlage war brandneu. Statt diskret in den Boden zu versinken und dann unsichtbar in den Ofen geschoben zu werden, wie es sonst meist üblich war, glitt der Sarg hier durch die polierten Stahltüren zum Feuer direkt in der Wand. Der extreme Temperaturunterschied zwischen dem Inneren des Ofens und der Raumtemperatur ließ die kühlere Luft mit Macht durch die Türen strömen und verursachte ein fauchendes Geräusch. Über eine Stahlschiene ließ der Kremierer den Sarg rasch in den Bauch des Ofens gleiten. Der Blumenschmuck prasselte, ehe er in der tausend Grad heißen
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