Das letzte Geleit: Kriminalroman (German Edition)
und legte den Arm um sie. »Aber natürlich, Line, es ist alles in Ordnung. Ich verspreche es dir. Ich habe ganz genau nachgeschaut.«
»Den Kopf, sie haben ihr den Kopf gestohlen«, jammerte Line, Annas beste Freundin und Eriks Ziehmutter. Es war schmerzlich, ihren geistigen Zustand ansehen zu müssen. Sie ließ sich nicht beruhigen. Der Mann namens Emil führte sie behutsam hinaus.
Das Grab, an dem sich alle versammelten, hatte einen Durchmesser von nur etwa einem Quadratmeter. Theo und sein unersetzlicher Gehilfe Kurti ließen die mit afrikanischen Motiven geschmückte Urne an zwei Seilen hinunter, die sie anschließend wieder emporzogen. Neben dem Erdloch stand eine Schale mit Rosenblättern, die die nächsten Angehörigen statt Erde hineinstreuen konnten. Den Anfang machte Erik. Alle beobachteten ergriffen das Geschehen, während der afrikanische Chor eine wehmütige Weise anstimmte. Nur Line, die vergessen hatte, was geschah, schaute sich um. Und so sah nur sie die hochgewachsene, dunkle Gestalt am Rande des Urnenfelds. Der Mann liftete seinen Hut und ging ruhig davon. Line fiel auf die Knie. Sie begann zu jammern.
Als die Totengräber am späten Nachmittag das Grab von Anna Florin zuschaufelten, ging bereits die Sonne unter. Zur gleichen Zeit schenkte sich auf der anderen Seite der Elbe der alte Mann exquisiten Champagner in ein Glas aus Bleikristall. Trotz seines hohen Alters waren seine Hände bemerkenswert kräftig und zitterten nicht. Er hob das Glas zu dem hohen Sprossenfenster, das den Blick auf die Elbe freigab.
»Ruhe in Frieden, Anna Florin«, sagte er in den Raum hinein. Dann leerte er das Glas in einem Zug.
Kapitel 6
Der Unbekannte
Sonnabend, 20. Dezember 2008
Abends stand Theo am Herd und rührte geistesabwesend in seinem Wok.
»Hör auf«, rief Lilly, »du zermanschst ja alles!«
»Ich verstehe gar nicht, warum ich mich immer wieder von Lilly breitschlagen lasse. Mich von dir bekochen zu lassen, meine ich«, sagte May zu Theo gewandt. »Am Herd bist du eine echte Katastrophe.«
»Möglicherweise, weil du selbst noch schlechter kochst? Muss ja irgendeinen Grund geben, wenn deine Tochter meine Kochkünste vorzieht.« Er zwinkerte Lilly zu.
May schnaubte verächtlich. Theo blickte in die blubbernde grüne Masse. Er argwöhnte schon seit geraumer Zeit, dass Lilly es darauf anlegte, ihn mit ihrer Mutter zu verkuppeln, und deswegen gemeinsame Aktionen inszenierte. Dieser Plan würde definitiv scheitern. May war zweifellos eine tolle Frau. Aber sobald sie gezwungen sein würden, mehr als 24 Stunden gemeinsam zu verbringen, würden sie einander die Köpfe einschlagen. Oder an die Gurgel gehen. Oder sonst was. So viel stand unumstößlich fest.
May deckte derweil den Tisch. Lautstark knallte sie Reisschalen, Stäbchen und kleine Schüsseln für die Soßen auf die Tischplatte. Sie mochte asiatisches Essen nicht besonders, ein Umstand, den sie aber nicht einmal unter Folter zugegeben hätte. May legte großen Wert darauf, ihren Wurzeln entsprechend zu leben.
Eines der misshandelten Schälchen rollte über die Tischkante und fiel auf den Boden, wo es ein paarmal um seine eigene Achse trudelte und dann liegen blieb.
»Mama!«, sagte Lilly.
May starrte auf die Schale. »So ein Mist.« Ihr traten plötzlich Tränen in die Augen.
»Mensch, May, jetzt nimm es dir doch nicht so zu Herzen. Ist doch nichts passiert.«
May stöhnte. Dann ließ sie sich auf einen Küchenstuhl sinken und bedeckte die Augen mit einer Hand. »Sprich es ruhig aus: Ich hab’s total versaut«, sagte sie unvermittelt.
»Was denn versaut?« Theo sah sie verdattert an.
»Na, Frau Rosenthal.« May schluchzte auf.
»Ach, die arme Frau Rosenthal … Vielleicht können wir morgen noch etwas mit ein bisschen Schminke rausreißen«, versuchte Theo zu trösten. Normalerweise verzichteten sie auf das Schminken der Toten. Sie sollten nicht besser aussehen als im Leben, was das Ziel ihrer meisten amerikanischen Kollegen war. Bei Matthies blieben die Toten möglichst natürlich.
May warf ihm einen wütenden Blick zu. »Theo, die Frau ist orange! Knallorange!«
Am Vortag hatte May eine neue Feuchtigkeitscreme für die 53-jährige Frau Rosenthal verwendet. In einer thanatopraktischen Fachzeitschrift hatte diese natürliche Frische versprochen. Als May am Morgen die schön hergerichtete Leiche begutachtet hatte, hatte sie fast der Schlag getroffen. Der Effekt der Creme war ähnlich wie bei einem Selbstbräuner in zu hoher
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