Das letzte Geleit: Kriminalroman (German Edition)
Luft verglühte. Dann schlossen sich die Türen wieder.
Charly wusste, was im Ofen vor sich ging. Er hatte oft genug durch das winzige Fenster gespäht, das an der Rückseite der Brennkammer angebracht war.
Unmittelbar nachdem die Ofentüren sich geschlossen hatten, entzündete sich der Kiefernholzsarg in der extremen Hitze und verwandelte sich in einen glühenden Kubus. Schon bald durchzog ein Mosaik aus schwarzen Linien das erhitzte Holz. An ihnen entlang begann der Sarg nach rund zwanzig Minuten auseinanderzufallen. Dann lag Annas Körper ausgestreckt in den Flammen. Rasch schmolzen die Haut und die dünnen Muskeln in der Hitze der brennenden Sargtrümmer. Nach einer Dreiviertelstunde war nur noch das Skelett übrig. Nach und nach barsten auch die Knochen.
Nach anderthalb Stunden warf der Leiter des Krematoriums einen Blick durch das Fenster.
»Kannst loslegen, Charly«, sagte er.
Routiniert öffnete dieser die Tür an der Rückwand des Ofens und zog die Überreste von Anna Florin wie in einer großen Schublade heraus. Inzwischen waren nur noch grauweiße, poröse Trümmer übrig geblieben. Charly erkannte noch das flache Halbrund der Schädeldecke und die Reste eines Oberschenkelknochens. Vom Holz des Sargs selbst war nicht einmal mehr Asche übrig geblieben. Sobald die Knochen ein wenig abgekühlt waren, fuhr er mit einem großen Magnetstab durch die bröckelnden Überreste, zog so die Sargschrauben und andere Metallteile heraus. Er warf sie in einen Eimer, in dem schon Hüftgelenke aus Titan und sogar eine Operationsschere lagen. Letzteres kam häufiger vor, und Charly hoffte dann stets, dass das spitze Ungetüm erst im Verlauf einer Obduktion vergessen worden war.
Leise summte er vor sich hin. Der kräftige junge Mann mochte seinen Job. Er fand, dass eine Feuerbestattung eine ausgesprochen würdige Art für einen Menschen war, in eine andere Welt überzugehen. Wenn er das Skelett in den lodernden Flammen betrachte, hatte das für ihn nichts Abstoßendes, sondern etwas Versöhnliches. Asche zu Asche, Staub zu Staub. Ein reinigendes Ritual. Zwei bis dreieinhalb Kilo, mehr blieb nicht übrig. Ungefähr genauso viel, wie ein Säugling bei der Geburt wiegt. Charly fand, dass sich der Kreis des Lebens so auf wundersame Weise schloss. Mit einer Schaufel beförderte er Annas Überreste in die Knochenmühle und legte drei tennisballgroße, massive Metallkugeln hinzu. Den codierten Schamottstein, der in Annas Sarg gelegen hatte und der einer eindeutigen Identifizierung diente, legte er beiseite. Auf Knopfdruck begann die Mühle Knochen und Stahlkugeln umzuwälzen, bis nur noch eine grauweiße, grobkörnige Masse übrig blieb.
Die Beisetzung der Urne war für den nächsten Tag vorgesehen. »Rechne mal besser damit, dass jede Menge Leute kommen«, hatte Fatih Theo vorgewarnt. »Jeder hier im Viertel hat Anna gekannt, und die meisten haben sie gemocht.«
20. Dezember 2008, 14.30 Uhr
Es war ein strahlend schöner Wintertag. Ein Vertreter von »Ärzte ohne Grenzen« brachte einen Kranz mit einer Schleife im Leopardenfellmuster. Fatih und Aische nickten Theo zu, während sie sich einen Platz suchten. Theo erkannte ihn erst auf den zweiten Blick. Fatih trug einen Anzug mit Krawatte. Immer wieder fingerte er zwischen Hals und Hemdkragen herum.
»Lass das«, zischte Aische. Fatih hatte natürlich in seiner gewohnten Gruftikluft erscheinen wollen.
»Anna fand meine Klamotten klasse«, hatte er gefleht.
»Nichts da«, hatte Aische gesagt, »du erscheinst anständig gekleidet zu dieser Beerdigung, und wenn ich dich in den Anzug prügeln muss. Etwas mehr Respekt, mein Sohn!« Fatih hatte kapituliert.
Ein Chor afrikanischer Emigranten hatte sich eingefunden. Anna, die zu ihrem Kummer zeitlebens keinen geraden Ton herausbekommen hatte, hatte einige der Mitglieder tatkräftig bei ihren Asylanträgen unterstützt. Sie sangen »Pata Pata« von Miriam Makeba, ein Lied, dessen Energie gut zu Anna passte. Verwundert sah Theo, dass der Platz in der kleinen Friedhofskapelle in Finkenriek nicht reichte und sich die Menschen vor der Tür versammelten.
»Ganz schön bewegend.« Hadice war neben ihm aufgetaucht und legte die Hand auf seine Schulter.
In der ersten Reihe saß eine alte Frau, die immer wieder verwirrt um sich blickte. Ein alter Mann streichelte ihr beruhigend die Schultern. »Emil«, rief sie auf einmal, als die Sänger eine Pause machten, »Emil hast du nachgeschaut, ob Annas Kopf noch da ist?« Erik eilte zu ihr
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