Das letzte Geleit: Kriminalroman (German Edition)
21. Dezember 2008
Geisterglaube hin oder her, am nächsten Tag beschloss Theo, Fatih einen Besuch abzustatten. Immerhin schien er Anna von allen am besten gekannt zu haben. Zuvor beerdigte er noch einen alten Mann, der mit seinen 83 Jahren ganz allein in seinem Häuschen in der Peter-Beenck-Straße gestorben war. Zum Glück war der Nachbarin aufgefallen, dass die Tür zum winzigen Garten trotz der winterlichen Temperaturen den ganzen Tag weit offen stand. Sie hatte die Polizei alarmiert, sodass sein Körper nicht allzu lange in der Wohnung lag. Die Beerdigung war eine einsame Angelegenheit. Außer dem Pfarrer und Theo war niemand dabei. Die Kosten trug die Stadt.
In Ismails Dönerladen drehte sich der Kalbfleischspieß gemächlich. Aische brütete über einem Kreuzworträtsel und nippte zwischendurch an einem Ayran, einem Becher mit türkischem Trinkjoghurt.
»Fatih«, sagte sie. »Der ist am Proben. Macht mit seinen Freunden höllischen Krach. Die behaupten, das sei Musik.« Ihr stolzer Mutterblick strafte die harschen Worte Lügen.
»Im Haus der Jugend?«, fragte Theo.
»Nö, in der Honigfabrik. Da geben die morgen ein Konzert.«
Die ehemalige Honigfabrik, kurz Hofa genannt, war Ende der 70er-Jahre mit viel freiwilligem Muskelschmalz zum Wilhelmsburger Kulturladen aufgemöbelt worden. Theo hatte dort als Teenager in der Holzwerkstatt herumgebastelt – wobei er allerdings keine große Ausdauer bewiesen hatte. Es reichte gerade für einen Barbiepuppen-Sarg. Auch heute kam er noch gelegentlich, um die eine oder andere Band anzuhören. So ging er geradewegs in den Konzertsaal, aus dem ihm statt der erwarteten wummernden Beats geradezu ätherische Klänge entgegenquollen.
Fatih stand mit geschlossenen Augen gefährlich nah am Bühnenrand. Die langen schwarzen Haare bedeckten sein Gesicht, und er sang mit Inbrunst in ein Mikrofon, das er mit beiden Händen dicht an den Mund hielt. Seine Stimme war melodisch und überraschend tief. Der Song mit türkischem Text hatte etwas Wehmütiges.
Neben ihm stand ein ebenfalls stark geschminkter und langhaariger Türke. Er spielte auf einem Instrument, das wie eine Laute aussah, aber einen viel kürzeren, merkwürdig abgewinkelten Steg hatte. Theo bemerkte, dass auf der Bühne noch weitere ungewöhnliche Instrumente bereitstanden. Er erkannte eine Rababa, ein Streichinstrument mit nur zwei Saiten, die über ein schlankes Rundholz gespannt waren, sowie eine lange Bambusflöte, eine Nai. Beeindruckt stellte er fest, dass den jungen Musikern eine großartige Verschmelzung von traditioneller orientalischer Musik und modernem Pop gelungen war.
Ein dritter Junge mit kahl geschorenem Schädel und Militäroutfit spielte eine gewöhnliche Bassgitarre. Ganz hinten drosch ein junger Mann mit gebleichtem Haar auf sein Schlagzeug ein. Mit seinem Ohrring, der schmalen Nase und den vollen Lippen erinnerte er verblüffend an den blutjungen Billy Idol. Allerdings guckte er nicht annähernd so grimmig.
Als die letzten Takte verklungen waren, applaudierte Theo. Fatih öffnete die Augen. »Ach, Sie sind’s.« Er nickte ihm zu. »Haben Sie noch einen Moment? Wir sind gerade beim letzten Song.«
Dienstag, 9. Dezember 2008
Am nächsten Tag war Anna zur Stelle. Sie hatte sich so seriös gekleidet, wie ihr Kleiderschrank es hergab: schwarze lange Hosen, ein grauer, bislang ungetragener Pullover, den Erik ihr geschenkt hatte. Das quietschbunte T-Shirt, das sie darunter trug, konnte niemand sehen. Darüber ein bordeauxroter Mantel, den sie sich von Jutta geborgt hatte. Zu groß, aber sehr elegant. Nur die Schuhe fielen aus dem Rahmen: violette Schnürstiefel mit pinkfarbener, falscher Pelzborte, die ab und zu unter den Hosenbeinen hervorblitzte.
Am Eingang hatte sie zunächst ein Türsteher angehalten. Henning Vogler, vierundzwanzig Jahre alt, Student der Wirtschaftswissenschaften, kämpfte an diesem Tag mit einer unerklärlichen, weil nicht saisongerechten Heuschnupfenattacke sowie der Nachricht auf seiner Mailbox, dass Charlotte schwanger war. Charlotte, die beste Freundin seiner Freundin Marie. Schwanger. Von ihm.
»Verzeihung, sind Sie auch Kongressteilnehmerin?«, fragte er, nachdem ihm das Fehlen des violetten Namensschilds aufgefallen war. Seine Stimme klang, verursacht durch die verstopfte Nase, dumpf. Auf Anna wirkte er wie ein Schuljunge. Letzteres wurde noch durch die Akne unterstrichen, die sich hie und da auf seinen Wangen zeigte. »Nein«, sagte Anna und strahlte ihn an. »Aber
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