Das letzte Geleit: Kriminalroman (German Edition)
kann damals nicht leicht für einen Deutschen gewesen sein, eine Einwanderungsgenehmigung zu bekommen«, grübelte Lars.
»Es sei denn, man war ein hervorragender Wissenschaftler. Wernher von Braun haben sich die Amis damals ja auch sofort geschnappt«, berichtete Theo.
»War das der, der für Hitler die Wunderwaffe bauen sollte?«, fragte Fatih.
»Genau. Stattdessen hat er dann für die Amis Raketen gebaut.«
Theo vertiefte sich in die Liste. »Tatsächlich«, sagte er, »der Mann scheint ein verdammtes Genie gewesen zu sein. Zwischen 1953 und 1994 hat er jedenfalls eine ganze Reihe von spektakulären Studien veröffentlicht.«
»Fragt sich nur: Warum hat Anna sich so für ihn interessiert?«, überlegte Lars.
»Immerhin war sie auch Ärztin«, warf Fatih ein.
»Ich weiß nicht. Hirnforschung ist doch schon ein sehr spezielles Gebiet. Anna hat doch ganz bodenständige Allgemeinmedizin betrieben, hast du gesagt.« Theo blätterte in den Unterlagen.
»Vielleicht haben sie zusammen studiert«, mutmaßte der Türke.
»Ich glaube nicht. Bergman hat sein Medizinstudium schon vor dem Krieg in Berlin absolviert.« Theo hielt ein Blatt aus seinem Stapel in die Luft . » Da muss Anna noch viel zu jung gewesen sein für ein Studium.«
»Stimmt, Anna hat erst in den 50er-Jahren angefangen zu studieren.« Fatih kannte sich in Annas Lebenslauf gut aus. »Da war Bergman längst weg.«
»Und Anna Florin?«, wollte Lars wissen.
»Anna ist in Hamburg geblieben. Bei Erik und bei Line.«
»Vielleicht war er ja Annas große Liebe«, sinnierte Theo. »Vielleicht hat sie darum nie geheiratet. Sie muss als junge Frau sehr schön gewesen sein.«
»Anna hat von allen Menschen auf der Welt vor allem einen geliebt«, sagte Fatih. »Und das war Line.« Er schwieg.
»Aber Line hat sich für Emil entschieden?«, wollte Theo wissen.
Fatih nickte. »Line hatte Emil. Und Anna ist allein geblieben. Sie hatte zwar den einen oder anderen Geliebten. Aber ihre große Liebe war Line.«
»Also wenn es nicht um Liebe ging und nicht um eine berufliche Beziehung: Was hat sie dann von ihm gewollt?« Lars kam auf das Wesentliche zurück. »Lebt das Genie überhaupt noch? Er muss ja mindestens neunzig sein.«
»Sogar 94. Hier steht ›Geboren am 18. Mai 1914 in Königsberg‹.« Theo tippte mit dem Finger auf den Ausdruck.
»In Ostpreußen.«
»Letzte Woche war er jedenfalls noch quicklebendig.« Fatih sah zufrieden aus. »Er hat einen Ehrenpreis für sein Lebenswerk entgegengenommen. Und was meint ihr wohl, wo?«
Triumphierend legte er das PDF mit dem Programm des Hirnforscherkongresses auf den Tisch, das Anna auf ihrem Computer gespeichert hatte. Ein Kringel markierte den letzten Programmpunkt.
»Wetten, das hat sie sich nicht entgehen lassen?«
Sie hörten, wie draußen etwas in den Briefkasten neben der Wohnungstür geworfen wurde. Theo erhob sich und schaute nach. Der Postbote, ein nicht mehr ganz junger Mann mit hochrotem Kopf, wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Mannomann«, sagte er. »Ich bin ganz schön froh, dass dies das einzige Haus auf meiner Route ist, in dem ich in jedes verdammte Stockwerk hochklettern muss.«
»Kann ich mir vorstellen.« Theo nickte verständnisvoll. Als er den Briefkasten öffnete, purzelte ihm ein flaches, leicht zerknautschtes Päckchen entgegen. Die Adresse war von Kinderhand sorgsam in Lila gemalt. Darum herum rankte sich eine Girlande aus Adventszweigen, Kugeln und Sternen.
Er ließ die Hand mit dem Päckchen nach unten sinken.
Entchens Kekse, dachte er bekümmert.
Am nächsten Morgen rief Theo bei den Organisatoren des Kongresses an. Er fragte, ob eine Frau Dr. Anna Florin auf der Liste der Akkreditierten zu finden sei. Frau Dr. Knauer am anderen Ende der Leitung gab den Namen in ihren Computer ein.
»Nein«, sagte sie und schnäuzte sich trompetend, »Verzeihung. Mich hat’s erwischt. Tut mir leid, Doktor Matthies. Ich finde überhaupt niemanden mit dem Namen Florin.«
»Und ohne Akkreditierung kommt man nicht hinein?«
»Nein. Die Akkreditierungsgebühren betragen 150 Euro. Da haben wir es nicht so gern, wenn jemand kostenlos teilnimmt.«
»Und die Preisverleihung?«, fragte Theo entmutigt.
»Auch dafür muss man akkreditiert sein. Das senkt auch das Risiko von unvorhergesehenen Zwischenfällen.«
Theo horchte auf. »Was für Zwischenfälle?«
Die Frau schnaufte empört in Erinnerung an den kürzlichen Eklat. »Bei der diesjährigen Preisverleihung hat sich eine
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