Das letzte Geleit: Kriminalroman (German Edition)
wahnsinnige Alte eingeschlichen.«
Dienstag, 9. Dezember 2008
Anna hatte sich auf einem der hinteren Ränge niedergelassen. Anwesend waren rund 100 Kongressteilnehmer, schätzte sie. Die meisten von ihnen waren Männer mittleren bis gehobeneren Alters. Der reinste Herrenklub, dachte sie, in puncto Gleichberechtigung hat sich hier in den letzten fünfzig Jahren wenig getan.
Vorn am Pult saßen drei Männer – ein Kahlkopf, einer mit Einsteinmähne (sorgfältig so getrimmt, vermutete Anna) und einer mit einem imposanten Bart. Ihnen gegenüber in der ersten Reihe sah Anna Bergman sitzen. Sie spürte, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte. Der Kahlkopf ergriff das Wort zur Abschlussrede des Kongresses. »Zum Schluss«, sagte er feierlich, »habe ich die Freude und Ehre, zwei hochverdiente Preise zu verleihen. Der eine geht an einen jungen Forscher, den das Preisgeld von 10 000 Euro sicher in seiner weiteren Laufbahn beflügeln wird. Der zweite ist ein Ehrenpreis für das Lebenswerk eines hoch geschätzten Kollegen, den Sie sicher alle kennen. Da seine Karriere nicht beflügelt werden muss, ist dafür nur die Ehre und kein Geldbetrag vorgesehen.« (Gelächter und verhaltener Applaus im Publikum.) Anna ließ die Laudatio für den jungen Hirnforscher an sich vorbeirauschen. Er entpuppte sich als nervöser, blasser 30-Jähriger, dem schon jetzt der Großteil seiner Haare ausgefallen war. Wo der Verstand wächst, müssen die Haare weichen, musste Anna bei seinem Anblick denken. Den Spruch hatte ihr ebenfalls schon früh kahl gewordener Vater bei jeder Gelegenheit gern angebracht. Anna blickte in ihren Schoß und stellte fest, dass sich ihre Hände um den Henkel ihrer schicken Handtasche – ebenfalls von ihrer Nachbarin Jutta geborgt – krampften. Mühsam löste sie den Griff. Dann war es so weit.
»Wie Sie alle wissen, geht unser diesjähriger Ehrenpreis an einen der verdientesten Männer unserer Zunft: Professor Doktor Jonathan Bergman.« Applaus brandete auf. »Ich will Sie nicht mit einer Auflistung seiner zahllosen Verdienste um die Wissenschaft langweilen – wir alle kennen sie, denn sie sind feste Bestandteile unseres Wissenskanons. Umso mehr freue ich mich, dass er heute bei uns ist. Ein leuchtendes Beispiel für die Forschung. Und ein lebendes Exempel dafür, dass die intensive Nutzung unserer Hirnsubstanz uns jugendfrisch hält.«
Der Kahlkopf, dessen Name Anna bereits entfallen war, gab Bergman ein Zeichen. Anna registrierte, wie mühelos er sich erhob. Verdammt, dabei hatte der Kerl die Gicht, die Pest und alles Unheil der Welt verdient.
»Halt«, rief Anna in das aufbrandende Klopfgewitter, mit dem Akademiker ihresgleichen ihre Wertschätzung erweisen. Sie erhob sich, mühsamer als Bergman, aber dann stand sie kerzengerade in der obersten Reihe des Auditoriums. Eine runzelige Rachegöttin mit eisgrauem Haar, die mit ausgestrecktem Arm auf den Preisträger wies. »Halt«, rief sie noch einmal laut, und zu ihrer Erleichterung verebbte das Klopfen. Hälse reckten sich, Gesichter wandten sich der Unruhestifterin zu. Der Kahlkopf drückte einen Knopf auf seinem Rednerpult und sprach unhörbar in sein Mikrofon.
»Dieser Mann«, sagte Anna laut, »hat keinerlei Ehrungen verdient.« Herausfordernd starrte sie in die Menge. »Sie, Sie alle hier«, sagte sie und blickte sich zornerfüllt um, »haben keine Ahnung, was dieser Mensch alles auf dem Gewissen hat. Er ist ein skrupelloser Verbrecher, ein unbarmherziger Sadist, eine Schande für die Medizin und für die Menschheit – und er ist ein Mörder.«
Die Tür öffnete sich, und ein hochroter Henning Vogler eilte auf Anna zu. Unten stand Bergman und starrte zu ihr empor. Für einen Moment kreuzten sich ihre Blicke. Als seine Augen sich weiteten, wusste Anna: Er hatte sie erkannt. Befriedigt ließ sie sich von dem jungen Mann hinausführen.
»Wir sprechen uns noch, Bergman«, sagte Anna zu sich. »Dann wird die Welt erfahren, wer du wirklich bist.«
Montag, 22. Dezember 2008
»Ein Mörder?« Theo war sogleich hellwach. Was hat sie damit gemeint?«
»Ach«, sagte die Dame von der Kongressleitung, »die Frau war vermutlich eine militante Tierschützerin. Wissen Sie, Hirnforschung ist ein Gebiet, in dem über viele Jahre fast ausschließlich mit Tierversuchen gearbeitet wurde.«
Theo nickte. Vor seinem inneren Auge erschienen grausige Bilder, auf denen traurige Äffchen in die Kamera blickten, denen man zu Forschungszwecken Elektroden ins Hirn gepflanzt
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