Das letzte Geleit: Kriminalroman (German Edition)
an jenem 27. Juli 1943?«
Und Kruse erzählte.
Mitten in der Nacht hatte das Krachen der Bomben die Bewohner von Eichenhof aus dem Schlaf gerissen, erinnerte sich Kruse. Während die Klinikangehörigen alle Hände voll zu tun hatten, die verängstigten Patienten zu beruhigen, waren Hein, der einarmige Anton und noch ein paar Burschen hinausgelaufen. Dass auch das Nebengebäude einen Treffer abbekommen hatte, war ihnen zunächst nicht aufgefallen.
»Das lag ja hinter allerhand Gestrüpp versteckt«, erklärte der alte Schweinezüchter. Die Fassade habe noch gestanden, und es habe auch kein Feuer gegeben. Ganz anders das brennende Maisfeld, das alle Aufmerksamkeit auf sich zog. Der alte Knecht Anton postierte sie an allen Ecken des Feldes, um zu verhindern, dass das Feuer sich ausweitete. Zum Glück waren die Wiesen und Gärten durch Gräben von den Feldern getrennt, sodass der Brand glimpflich verlief.
»Das Feld selbst verwandelte sich in eine grandiose Popcornmaschine«, erzählte Kruse, sichtlich noch nach Jahrzehnten beeindruckt. Die Maiskörner hatten sich in der Hitze aufgebläht und zerknallten, dass die Funken nur so stoben.
Erst nach einer guten Stunde hatte man ihn vom Feld abkommandiert. Der Hilfspfleger Fritz hatte die bewusstlose Anna aus dem zerbombten Haus geschleppt. Erst da war aufgefallen, dass das Gebäude mit der geheimen Privatklinik zerbombt worden war. »Bis dahin hatte ich jo so einiges munkeln hör’n, aber was die in dem Kasten nu’ getrieben haben, hätt ich mir nie vorstellen können.« Er griff nach seiner Kaffeetasse, trank aber nicht, sondern drehte sie in den Händen. Dann blickte er auf. »So watt Schreckliches hab ich mein Lebtag nich’ gesehen – und danach gottlob nie wedder.«
Gemeinsam mit drei anderen jungen Burschen, die niedere Arbeiten auf dem Stift verrichteten, und dem couragiertesten der Ärzte, Otto Richter, war er vorsichtig in das Gebäude vorgedrungen, um mögliche Überlebende zu bergen. »Aber die war’n allesamt mausetot.« Er schwieg. »Und glaub mir, für die Patienten war dat am besten so.«
Von den acht Krankenzimmern, die im ersten Stock eingerichtet worden waren, waren sieben belegt gewesen. Die meisten Opfer sahen sehr krank aus – sofern Tote überhaupt krank aussehen können. Sie wirkten schwach und ausgezehrt und hatten schrecklich anzuschauende Operationsnarben an der Brust, am Bauch und auch am Kopf. Im Keller stießen sie zudem auf drei weitere Leichen, die offenbar schon vor dem Unglück gestorben waren. Zwei davon, die 21-jährigen, geistig behinderten Zwillingsschwestern Herta und Martha, waren an Hüfte und Schulter aneinandergenäht worden. Jeder von ihnen fehlte ein Arm.
»Aus den Deerns haben die ganz einfach siamesische Zwillinge gemacht.«
Theo schauderte. »Und was war mit den Ärzten?«
»Von Vries und zu Weißenfels.« Kruse nahm einen Schluck von seinem inzwischen kalt gewordenen Kaffee und verzog das Gesicht. »Einen von den Schweinehunden hat es erwischt. Wir haben den unter einem Berg Trümmer rausgezogen. Total zerschmettert war der.«
»Sven von Vries?«
Kruse nickte. »Für meinen Geschmack hat der einen viel zu leichten Tod gehabt.«
»Und der andere?«
»Weißenfels? Von dem haben wir keinen Krümel gefunden. Allerdings war eines der Zimmer völlig verwüstet. Da muss ’ne große Sauerstoffflasche hochgegangen sein. Von wie vielen Körpern die Überreste warn, konnt’ man nich’ mehr sagen.« Er schwieg nachdenklich. »Ich für meinen Teil glöv ja, dass dieser Weißenfels sich in der Nacht dünnegemacht hat.«
Theo nickte. »Ich hab schon gehört, dass einer der Wagen fehlte.«
»Nich’ nur das.« Kruse sah Theo in die Augen.
»Eene von den jungen Deerns aus dem ersten Stock, also eene von denen, die vor dem Treffer noch am Leben gewesen waren, fehlte der Kopf. Und den hat ihr irgendjemand erst nach dem Tod abgeschnippelt.«
»Grässlich«, war Hannas Kommentar zu Theos Bericht. Er saß auf einem Hocker, während die Kranke wie eine moderne Madame Bovary auf der Couch ruhte. Ihre Nase allerdings sah aus wie die von Rudolph, dem Rentier.
»Ich frage mich nur, wer sich auf der Flucht mit einem Schädel belastet«, grübelte Theo.
»Vielleicht war es für ihn ein unschätzbar wertvolles Forschungsobjekt.« Hannas Stimme klang dumpf hinter dem Taschentuch hervor. Am liebsten wäre sie ganz dahinter verschwunden. Es war ihr gar nicht recht, dass Theo sie in diesem Zustand besichtigte. Sie sah absolut
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