Das letzte Geleit: Kriminalroman (German Edition)
Dass er nun zur Tatenlosigkeit verdammt war, frustrierte ihn ungemein. Immerhin konnte er für Ablenkung sorgen. Er lief zurück zum Tor und presste den Finger auf den Klingelknopf. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis endlich eine Stimme aus der Gegensprechanlage ertönte. »Wer sind Sie, und was wollen Sie?« Das war zweifellos Bergmans kultivierte Stimme. Eine Hand legte sich auf Theos Schulter. Erschrocken fuhr er herum. Neben ihm stand Hadice. Sie reckte ihre Dienstmarke in die Überwachungskamera. »Polizei«, sagte sie. »Bitte öffnen Sie die Tür.«
Kapitel 19
Kältetod
Donnerstag, 11. Dezember 2008
Annas Augenlider flatterten.
»Sie wacht auf«, sagte eine Stimme.
»Zu früh.«
Sie spürte einen Stich hinter dem Ohr, dann versank sie wieder. Das nächste Mal erwachte sie vor Kälte. Um sie herum herrschte vollkommene Dunkelheit. Sie versuchte sich aufzusetzen und musste feststellen, dass sie sich nicht bewegen konnte. Breite Gurte aus Kunstfasern hielten jedes Glied an seinem Platz.
Sie spürte, dass sie auf einem eiskalten Boden lag. Beton oder Stein? Es roch nach Moder. Der Geruch erinnerte sie an den Weinkeller ihres Vaters. Aber dort war es nicht so kalt gewesen. Die Kälte war unbeschreiblich. Sie fraß sich durch ihren dünnen Pullover, durch die Haut bis in die Knochen. Sie verlangsamte ihren Herzschlag und ließ das Blut träger werden. Nur Annas Kiefermuskulatur schien ein Eigenleben zu führen. Die Zähne schlugen Stakkato. Anna hatte keine Ahnung, wie lange sie hier schon lag. Sie wusste nur, dass sie völlig ausgekühlt war und keinen Finger rühren konnte, um sich aufzuwärmen. Sie musste an die Jahre in Afrika denken. An die ungeheure Hitze, die sie dort oft verflucht hatte. Jetzt würde sie viel darum geben, nur eine Minute in diese flirrenden Temperaturen eintauchen zu können. Anna sah es vor sich. Die endlose Steppenlandschaft, durch die der Wind wie eine Herde unsichtbarer Antilopen durch das hohe, gelbe Gras fegte. Die Berge am Horizont, die durch die flimmernde Luft wie hinter einem bewegten Vorhang aufragten. Und der ungeheure Himmel, der sich dort unbegreiflicherweise so viel höher als in ihrer norddeutschen Heimat zu wölben schien. Dieser Himmel. Anna stöhnte. Wollte von Vries sie etwa in einem Kellerloch verrecken lassen? Die Vorstellung, nie wieder den Himmel zu sehen, war unerträglich. Wie hatte sie nur so dumm sein können, ganz allein hier aufzukreuzen? Kein Mensch wusste, wo sie war. Und sie hatte nicht gewusst, dass Sven von Vries nicht nur ein skrupelloser Wissenschaftler, sondern auch ein Mörder war.
Die Zeit dehnte sich unendlich in der Dunkelheit. Anna spürte ihre Hände und Füße, die vor einer Weile noch geschmerzt hatten, nicht mehr. Auch das Zähneklappern schien nachzulassen. Sie wusste, dass das ein schlechtes Zeichen war. Nach der ersten Ewigkeit verstrich eine zweite. Dann plötzlich hörte sie etwas. Geräusche, Stimmen. Sie versuchte, um Hilfe zu rufen, und musste feststellen, dass sie nur ein schwaches Krächzen herausbrachte. Eine schwere Tür wurde aufgestoßen, und ein Lichtstrahl durchstieß die Dunkelheit.
»Lebt sie noch?«, fragte Fitzpatrick. Das Licht fiel grell auf ihre entwöhnte Netzhaut. Unwillkürlich kniff sie die Augen zusammen.
»So schnell erfriert man nicht«, sagte von Vries.
Anna fühlte, wie zwei Hände sie packten und auf die Seite drehten. Dass jemand ihren Rock hob und die Unterhose herunterzog, spürten ihre tauben Nervenenden kaum noch. Sie führten ihr einen kalten Stab in den After ein. Thermometer, dachte Anna müde.
»Schon deutlich unterkühlt«, hörte sie von Vries’ Stimme von Weitem.
»Praktisch, dass das alte Haus hier einen Eiskeller hat.«
Die beiden Männer packten sie an Armen und Beinen und schleppten sie in die Nacht hinaus. Annas Blick suchte Halt am Himmel, während die beiden sie nach unten zur Elbe schafften. Sie hörte ein leises Plätschern, dann wurde sie an Bord eines Bootes gehievt. Sie spürte das Schwanken des Wellengangs. Ein Motor sprang an, und das Schaukeln verstärkte sich. Wohin bringt ihr mich?, wollte Anna fragen, aber ihre Lippen gehorchten ihr nicht mehr. Wollte man sie ins Wasser werfen wie eine tote Katze? Annas Gehirn reagierte auf diese Vorstellung mit einem letzten Aufflackern von Furcht. Sie hatte nie an die Geschichten geglaubt, denen zufolge Ertrinken ein gnädiger Tod sein sollte.
»Warum ausgerechnet zum Leuchtturm?«, fragte Fitzpatrick.
Welcher
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