Das letzte Gericht - was berühmte Menschen zum Schluss vespeist haben
eingerichtet, eine Eisenbahnlinie gebaut, Briefmarken mit Meneliks Konterfei gedruckt und eine Nationalbank gegründet. Als persönlichstes Zeichen seines Modernisierungswillens lässt Menelik Anfang des 20. Jahrhunderts das erste Automobil nach Addis Abeba importieren, mit dem er mutig über die staubigen StraÃen der Hauptstadt holpert. Zur gleichen Zeit mehren sich allerdings bereits die ersten Anzeichen für den körperlichen und geistigen Untergang des reformwilligen Kaisers. Mehrere Schlaganfälle zwingen Menelik immer wieder ins Krankenbett und führen zu einer halbseitigen Lähmung seines Körpers. Obwohl Menelik die komplette äthiopische Ãrzteschaft zur Weiterbildung nach Europa geschickt hat, vertraut er selbst auf ganz andere Heilkräfte: Immer wenn ihn ein neuer Schub seiner Krankheit ereilt, greift er zur Bibel. Doch das alleinige Studium reicht ihm nicht. Sobald er einige Verse gelesen hat, reiÃt er die entsprechenden Stellen aus dem Buch und verspeist sie, um sich die Kraft der Worte ganz einzuverleiben.
Am 12. Dezember 1913 fühlt sich Menelik II . besonders unwohl. Nach seinem letzten Schlaganfall hat seine Frau Taytu die Staatsgeschäfte übernommen. Auf dem Krankenlager seines Palastes in Addis Abeba greift Menelik wieder zum Alten Testament. Mit zittriger Hand schlägt er das »Buch der Könige« auf und liest über seine Vorfahren, die rund dreitausend Jahre zuvor die äthiopische Herrscherdynastie begründeten. AnschlieÃend reiÃt er die kraftspendenden Seiten heraus, stopft sie sich in den Mund und kaut bedächtig darauf herum. Doch seine literarische Speisung kommt zu spät: Noch bevor er die eingespeichelten Bibelseiten herunterschlucken kann, versagt das Herz des 69-Jährigen.
Lesefutter à la Menelik II.
Zutaten: Die Bibel
Zubereitung: Das »Buch der Könige« aufschlagen und lesen. AnschieÃend die entsprechenden Seiten herausreiÃen und in den Mund stecken. Langsam einspeicheln und runterschlucken.
François Mitterrand
1916 â 1996
Etwas Gespenstisches liegt am Silvesterabend 1995 über dem groÃzügigen Landhaus von François Mitterrand im Süden von Frankreich. Schwere Limousinen parken unter hoch gewachsenen Pinien vor der Haustür. Die dreiÃig engsten Freunde des ehemaligen Staatspräsidenten Frankreichs haben sich an diesem Abend bei Mitterrand eingefunden. Sie wollen nicht nur das alte Jahr verabschieden, sondern vor allem ihrem langjährigen Freund Adieu sagen. Natürlich ist Mitterrands Frau Danielle anwesend, ebenso der ehemalige Kulturminister Jack Lang und der Chef der Sozialistischen Partei Frankreichs, Henri Emmanuelli. Alle wissen um den gesundheitlichen Zustand ihres alten Wegbegleiters: François Mitterrand hat nur noch wenige Tage zu leben. Der Krebs in seinem Körper zerfrisst ihn unaufhaltsam. Die Ãrzte haben dem Politiker längst mitgeteilt, dass sie nichts mehr für ihn tun können. In seinem Landhaus nahe des kleinen Ortes Latché im Südwesten Frankreichs will sich der todkranke Ex-Präsident mit einem festlichen Silvesterdiner von seinen engsten Freunden verabschieden. Kurz zuvor hatte er in einem seiner letzten Interviews selbstbewusst erklärt: »Ich bin der letzte groÃe Präsident. Nach mir wird es nur noch Banker und Buchhalter geben.« Nun hat er den Ehrgeiz, auch abzutreten wie ein groÃer Präsident.
Doch Mitterrand ist an diesem Abend bereits so geschwächt, dass er zunächst nicht mit am Esstisch Platz nehmen kann. Im spärlich beleuchteten Speisezimmer seines Landhauses döst er ein wenig abseits auf einer Chaiselongue, schlürft hin und wieder eine Auster oder knabbert appetitlos etwas WeiÃbrot mit Gänseleberpastete. Erst als die Hauptspeise seines Abschiedsmenüs serviert wird, kehrt mit einem Mal auch das Leben in den dahinsiechenden Staatsmann zurück. Allein für den delikaten Geruch, der urplötzlich durch das Speisezimmer zieht, lohnt es sich, mit dem Sterben noch eine Weile zu warten. Sozialisten-Chef Henri Emmanuelli hat Wort gehalten und Mitterrands letzten Speisewunsch erfüllt: Zwölf Ortolane. Die kleinen Singvögel gelten unter Gourmets als absolute Delikatesse. Gleichwohl ist die Jagd und der Verzehr in der Europäischen Gemeinschaft seit dem Jahr 1979 verboten. Die Ammerart steht unter Naturschutz. Nur in Frankreich hält sich daran niemand. Hier taucht der kleine
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