Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das letzte Hemd ist bunt: Die neue Freiheit in der Sterbekultur (German Edition)

Das letzte Hemd ist bunt: Die neue Freiheit in der Sterbekultur (German Edition)

Titel: Das letzte Hemd ist bunt: Die neue Freiheit in der Sterbekultur (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz Roth
Vom Netzwerk:
des Verstandes, der Befriedigung der Sinne, der Verbreitung des Fortschritts entgegenstellt, wird nun als Leiden bezeichnet«. Je mehr das Glück angestrebt wird, desto mehr sind Menschen auf das fixiert, was diesem Glück noch im Wege stehen könnte. Folgt man den Argumenten von Pascal Bruckner, so heißt modern sein »unfähig sein, sich mit dem Schicksal abzufinden, das für uns vorgesehen ist«.
    Wir neigen dazu, uns vor Entscheidungen zu drücken, weil wir damit Verlust verbinden. Eine Wahl zu treffen heißt fast immer, etwas anderes von Wert aufzugeben. Wählen zu lernen ist schwer. Gut wählen zu lernen ist noch schwerer. Und gut wählen zu lernen in einer Welt unbegrenzter Möglichkeiten ist ungeheuer schwer. Wir können aus der Begegnung mit Tod und Sterben lernen, Vergangenes wirklich loszulassen und Verluste zu akzeptieren.
    Ökonomen kennen ein Phänomen, das sie »verlorene Kosten« nennen: Jemand hat ein Paar Schuhe gekauft, das ihm doch nicht passt. Obwohl er weiß, dass er die Schuhe nie wieder anziehen wird, behält er sie im Schrank, denn würde er sie weggeben oder wegwerfen, würde er sich damit einen Verlust eingestehen. Aus ähnlichen Gründen halten viele Leute an Aktien fest, die an Wert verloren haben, weil ein Verkauf die Geldanlage in einen Verlust verwandeln würde.
    »Wenn wir jetzt rausgehen«, so argumentieren Generäle im Krieg, »sind die vielen Tausend Soldaten und Zivilisten umsonst gestorben.« Ein solches Denken orientiert sich an der Vergangenheit und nicht an der Zukunft. Dieses Denkmuster ist auf viele andere Lebenslagen übertragbar.

Die Angst vor dem Alter
    Eine Gesellschaft, die Tod und Sterben an den Rand drängt, ist – kaum verwunderlich – auch eine Gesellschaft, in der Älterwerden und Altsein »nichts für Feiglinge ist«, wie es Bette Davis einmal formuliert hat. Sechzigjährige kokettieren damit, 60 Jahre jung zu sein. Und doch wäre eine Gesellschaft, die das Alter ehrt und ihm die Bedeutung beimisst, die ihm zukommt, vielleicht eine glücklichere Gesellschaft, eine, in der man nach gelebten Leben »alt und lebenssatt«, wie es das Alte Testament plastisch formuliert, zufrieden sterben könnte.
    Die Wahrheit ist: Was wichtig ist im Leben, wissen ältere Menschen oft besser als junge. Denn das Wichtige weiß man nicht, das Wichtige erfährt man. Daher ist in Wirklichkeit das Alter eine Ressource, eine Kraftquelle für das einzelne Leben und für die Gesellschaft.
    Das Problem, vor dem wir im Umgang mit Tod und Sterben heute stehen, ist der Zusammenstoß der unbegrenzten Möglichkeiten mit dem Unbeherrschbaren. Der Tod erinnert konkret daran, dass Leben nicht gleichbedeutend ist mit grenzenlosen Möglichkeiten. Er hält uns an und erinnert daran, dass wir so viel medizinische Behandlung in Anspruch nehmen können, wie wir wollen – dass uns dies aber nicht vom Tod, von der eigenen Vergänglichkeit befreit. Wenn, wie Freud meinte, der Mensch im frühen 20. Jahrhundert neurotisch wurde, weil er das Ausmaß des Verzichtes, das die Gesellschaft fordert, nicht ertragen konnte, so wird er im frühen 21. Jahrhundert depressiv, weil er die Illusion ertragen muss, dass ihm alles möglich sei.

Grenzen der Kontrolle
    Der Tod lehrt uns, etwas zu akzeptieren, das so ist, wie es ist – nicht, wie wir es haben wollen. Wir hätten viele Situationen gerne anders als sie sind. »Die Leute sollten freundlicher sein.« »Die Schlange vor der Kasse im Supermarkt sollte sich schneller bewegen.« Die Klage »Ich wünschte, ich hätte meinen Job nicht verloren« raubt uns mehr Kraft als die Frage: »Ich habe meinen Job verloren; was kann ich in dieser Situation tun?« Den Tod als Teil des Lebens zu akzeptieren heißt nicht, dass man mit allem einverstanden sein muss und nichts ändern kann. Es bedeutet aber, dass man Grenzen annehmen kann. Niemand will, dass die beste Freundin bei einem Autounfall schwer verletzt wird. Aber wenn es so ist, wird man lernen müssen, das Unglück, das man nicht ungeschehen machen kann, anzunehmen und auszuhalten.
    Endlichkeit und im weiteren Sinne Einschränkungen und Verluste zu akzeptieren ist schwierig. Es ist eine Fähigkeit, die sich auf viele Lebensbereiche auswirkt, denn sie schafft eine ganze Reihe neuer Möglichkeiten: Man wird seine Zeit anders nutzen. Und man wird sich vielleicht fragen, was man in verschiedenen Lebensbereichen wirklich will. Wer lernt, Endlichkeit zu akzeptieren, stellt fest, dass jede Entscheidung davon lebt, wie gut man sich

Weitere Kostenlose Bücher