Das letzte Hemd ist bunt: Die neue Freiheit in der Sterbekultur (German Edition)
selbst, seine Werte und Ziele kennt.
Wüssten wir in diesem Moment, an welchem Tag genau wir sterben werden, so würden wir mit Sicherheit schon morgen anders leben. Denn wir wüssten, morgen wäre unwiderruflich ein unwiederholbarer Tag weniger auf der Lebensrechnung. Nun ist es aber wirklich so, dass es absolut sicher ist, dass wir irgendwann sterben und dass daher der morgige Tag unwiderruflich ein unwiederholbarer Tag weniger auf unserer Lebensrechnung ist. Und damit ist klar, die Zeit ist begrenzt. Vielleicht wäre es kein schlechter Gedanke, sich ab und zu eine halbe Stunde Zeit zu nehmen und einen Friedhof zu besuchen – und für einen Moment aus allen Zweckmäßigkeiten auszusteigen. Das ist keine halbe Stunde Ewigkeit, aber: Uns begegnet für einen Moment etwas, das über dieses Leben hinausgeht
Die Begegnung mit dem Tod zeigt, dass der Augenblick einzigartig ist. Schönheit liegt nicht in der Perfektion, sondern in der Einzigartigkeit. Wir leben in einer Zeit und Kultur, in der wir dem Einzigartigen und Unwiederbringlichen kaum mehr Aufmerksamkeit schenken. Wenn wir an Schönheit denken, dann haben wir keine Bilder von der Vergänglichkeit des Lebens vor Augen. Unsere Vorstellung von Qualität ist, dass Gegenstände möglichst lange so aussehen wie an dem Tag, an dem wir sie gekauft haben. Spuren der Zeit werten einen Gegenstand in unseren Augen ab, und deshalb versuchen wir sie zu vermeiden: Unsere Autos dürfen keine Kratzer haben, die Farbe unserer Kleidung muss immer leuchten wie neu, Flecken müssen entfernt werden, und wenn ein Gegenstand sich gar nicht mehr in dieses Schönheitsideal einfügt, dann werfen wir ihn eben weg und kaufen einen neuen. Wir wollen von allem viel zu viel, und die meisten von uns haben auch von allem viel zu viel: zu viele Bücher, zu viele Möbel, zu viele Kleidungsstücke. Wir essen zu viel, trinken zu viel, arbeiten zu viel. Es gibt aber auch eine andere Idee vom Leben. Eine Form der Zufriedenheit, die aus dem Bewusstsein der Vergänglichkeit erwächst.
Der Tod ist der Ort, an dem wir Vergänglichkeit spüren können: Alles verändert sich, nichts bleibt, wie es ist, und alles findet irgendwo sein Ende. Und es geht darum, sich dieser Veränderung nicht entgegenzustellen, sondern sie als natürlichen Teil des Lebens zu akzeptieren. Zu akzeptieren, dass unser Leben vergänglich ist und dass es darauf ankommt, wesentlich zu werden. Das heißt herauszufinden, was wir wirklich brauchen und was uns als Individuum einzigartig und unverwechselbar macht. Wer dies zum Leitmotiv seiner persönlichen Entwicklung macht, wird unabhängiger sein und dem Leben mit einer anderen Haltung begegnen: Wir können zwischen dem, was uns von außen als richtig und wichtig angeboten wird, und dem, was wir wirklich brauchen und wollen, unterscheiden. Wir können den Dingen ihren Lauf lassen, sie ihren eigenen Platz finden und geschehen lassen. Wir können uns auf das beschränken, was wirklich notwendig ist. Wir wissen, wann wir bei einer Sache bleiben sollten und wann es Zeit wird, sich von ihr zu lösen.
Ein verdrängter Tod wirft seine Schatten über das ganze Leben. Wenn ich heute einen Menschen hätte anlächeln sollen, der es gebraucht hätte, und es nicht getan habe, dann kann ich das in Wirklichkeit niemals wiedergutmachen. Jeder Moment ist unwiederholbar – weil es den Tod gibt. Daher gilt: Wer den Tod verdrängt, verpasst das Leben.
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Krise und Aufbruch
Krisenbewältigung als Lebenskompetenz
Die Erfahrungen von Verlust und Endlichkeit, von erschütterten Gewissheiten und Grenzen der Plan- und Kontrollierbarkeit beschränken sich nicht auf die Begegnung mit Tod und Trauer. Sie begleiten viele Lebenssituationen, die als tiefe Krisen erlebt werden wie Trennung, Arbeitslosigkeit oder eine schwere Krankheit. Krisenerfahrungen haben viel Ähnlichkeit mit dem, was wir bei Trauerprozessen erleben: Das Leben, wie wir es bislang geführt haben, ist vorbei. Die Zukunft, mit der wir »gerechnet« haben, wird es so nicht geben. Etwas endet, und wir sind aufgefordert, das Leben wieder neu zu »lernen«. Aus der bewussten Auseinandersetzung mit der Endlichkeit des Lebens und der Unvorhersehbarkeit des Todes gewinnen wir Einsichten und Erfahrungen, die in anderen Lebenskrisen hilfreich sind.
Warum sind Krisen so allgegenwärtig? Im individuellen Leben sind es die großen Rahmen der familiären Bindung, der Bindung an einen Beruf oder einen Arbeitsplatz, die seit Jahrzehnten in Auflösung
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