Das letzte Hemd ist bunt: Die neue Freiheit in der Sterbekultur (German Edition)
»Manchmal denke ich, ich werde gerade geboren. … In Wahrheit sterbe ich gerade. Aber Sie auch. Nur das Wissen darum unterscheidet uns.«
Niemand rechnet mit einer tödlichen Krankheit, so wenig wie mit dem Tod. »Schwarze Schwäne« nennt der Mathematiker Nassim Nicholas Taleb Ereignisse, die jenseits des Erwartungshorizonts liegen. Wir halten sie so lange für undenkbar und unmöglich, bis sie eintreten. Es handelt sich dabei um unwahrscheinliche Einzelereignisse, die sich genau so nicht wiederholen. Lebenskrisen sind solche Einzelereignisse. Was der Verlust eines Menschen bedeutet, entzieht sich der Generalisierung. Jeder trauert anders, jede Lebenskrise ist so einzigartig wie das individuelle Leben, der individuelle Tod.
Die Unvorhersehbarkeit von Krisen
Diese Einzigartigkeit von Krisen wahrzunehmen, fällt schwer. Das gilt auch auf der Ebene der großen Krisen und Katastrophen. Risikoforscher diagnostizieren für die Katastrophen der jüngeren Geschichte eine Einzigartigkeit, die sie von früheren Krisen grundlegend unterscheidet. Der 11. September 2001, der Tsunami im Indischen Ozean, der Hurrikan Katrina, die Finanzkrise, das Deepwater-Horizon-Desaster, Fukushima: Schockereignisse, die Krisenstäbe und Experten vor nie dagewesene Situationen stellen, für deren Bewältigung es keine Vorbilder gibt. Zwar gab es Terror, Erdbeben, Vulkanausbrüche und Ölkatastrophen früher nicht seltener als heute. Doch ihre Folgen sind weit schwerer, sie erschüttern die Welt, und die herkömmlichen Strategien erweisen sich als wertlos. Zwar gibt es Krisenstäbe, Notfallszenarien und Einsatzpläne; doch bei den besonderen Herausforderungen der Situation erweist sich das Expertenwissen als hinderlich – es stützt sich auf vergangene Erfahrungen. Angesichts einer unerwarteten, neuartigen Krise geht es vor allem aber darum, sich von Gewissheiten zu lösen, um die Realität in der Situation wahrzunehmen. Das Festhalten an den vorhandenen Plänen erweist sich als fatal.
So war man in New Orleans im August 2005 durchaus auf den herannahmenden Hurrikan vorbereitet; Computermodelle hatten den Weg berechnet, Evakuierungspläne legten fest, wie die Bewohner mit Bussen aus der Stadt gebracht werden sollten; für den Ausfall des Telefonnetzes standen wasserdichte Notfallstationen bereit. Doch der Hurrikan hielt sich nicht an die Vorstellungen, die man sich von ihm gemacht hatte – von einem Moment zum anderen veränderte sich die Ausgangslage. »Jeder – auch jeder Entscheidungsträger – befand sich in einem Schockzustand«, wird in einem Bericht zur Katastrophe festgestellt. Viele Mitglieder der Rettungsteams waren persönlich betroffen: Geliebte Menschen waren verschwunden, ihre Häuser zerstört. Das veränderte die Bedingungen des Krisenmanagements, und auf solche Veränderungen war niemand vorbereitet.
Das sture Festhalten an Vorschriften versperrte den Weg zu kreativen Lösungen. »Nach Plan zu scheitern scheint oft bequemer, als mit unkonventionellen Lösungen Erfolg zu haben«, heißt es in dem Bericht weiter. Zumindest könnten die Beteiligten dann behaupten, sich an die Vorschriften gehalten zu haben, auch wenn sie von den tatsächlichen Ereignissen überholt wurden. Die Aufgabe eines Krisenmanagements, das der Einzigartigkeit einer Krise gerecht werden kann, lautet daher, sich auf Überraschungen einzustellen. Und in unübersichtlichen Situationen die Standardpfade zu verlassen, um nach kreativen und innovativen Lösungen für die Besonderheit der Situation zu suchen. Dafür sollten auch Entscheidungsträger in Seminaren vorbereitet werden, die mehr beinhalten als das übliche Abarbeiten von Checklisten. Ihnen müsste stattdessen die Fähigkeit vermittelt werden, die richtigen Fragen zu stellen.
Je tiefer das Vertrauen in die Berechenbarkeit und Vorhersehbarkeit, in wissenschaftlichen Erkenntnisse und komplexe Techniken, desto heftiger ist der Schock, wenn die Grenzen des Berechen- und Kontrollierbaren schlagartig in einer Krise oder Katastrophe sichtbar werden. Das Vertrauen auf Systeme wird in Krisensituationen vor allem dann zur Gefahr, wenn sie die reale Wahrnehmung ersetzen. Beispiel Concorde: Als auf dem Flug 4590 im Cockpit eine Feuerwarnung aufleuchtete, spie die Turbine zwar Feuer, brannte aber nicht. Der Pilot schaltete – systemkonform – sofort das Triebwerk ab. Die Maschine geriet aus dem Gleichgewicht und stürzte ab. 109 Menschen starben. Der Organisationspsychologe Karl E. Weick fand in seinen
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