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Das letzte Hemd ist bunt: Die neue Freiheit in der Sterbekultur (German Edition)

Das letzte Hemd ist bunt: Die neue Freiheit in der Sterbekultur (German Edition)

Titel: Das letzte Hemd ist bunt: Die neue Freiheit in der Sterbekultur (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz Roth
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begriffen sind. Wir können uns weder auf die ewige Haltbarkeit unserer Ehe verlassen noch auf die Gewissheit, über lange Jahre oder Jahrzehnte unseren Beruf in ein und derselben Firma auszuüben. Sicherheit vor den großen Lebensrisiken können (und wollen) die gesellschaftlichen Institutionen immer weniger bieten. In Deutschland ist der Abbau der sozialen Sicherungssysteme in den vergangenen Jahren immer weiter fortgeschritten. Der Schutz, den die Gesellschaft dem Einzelnen bieten kann, ist brüchig geworden. Wir leben gesellschaftlich und individuell längst auf »rutschenden Abhängen«, wie es der Soziologe Hartmut Rosa in seinem Buch Beschleunigung formuliert hat. Der einzige Halt, den wir dort noch finden können, ist der Halt, den eine innere Haltung gibt: Unsere Kompetenzen kann uns niemand nehmen, unseren Arbeitsplatz schon. Unsere Ehe mag in die Brüche gehen; unsere Fähigkeit zu lieben und in einer Partnerschaft zu leben, bleibt uns erhalten.
    Scheidung, Arbeitslosigkeit und Krankheit zählen zu den Brüchen, die in jeder Biografie vorkommen können; damit werden die Fähigkeiten, mit solchen »Einbrüchen«, die das Leben in ein Davor und ein Danach trennen, fertigzuwerden, zu wichtigen Lebenskompetenzen. Der Tod, den wir verdrängen und außerhalb des Erfahrungshorizonts halten, ist der Maximalfall eines solchen Bruchs.
    Für viele Menschen entwickelt sich aus einer Lebenskrise der Aufbruch in ein anderes, bewussteres und mutigeres Leben. Menschen, die mit einer schweren Krankheit konfrontiert wurden, berichten, dass sich die Erschütterung auf ihr gesamtes Leben ausgewirkt hat: Sie leben intensiver, sie interessieren sich für andere Fragen. Aus dem Bewusstsein der Endlichkeit und Zerbrechlichkeit des Lebens gewinnen sie den Mut, ihren eigenen Werten zu folgen – auch um den Preis, mit Regeln und Erwartungen zu brechen.
    Zu den bewegendsten Zeugnissen für die Veränderungen, die sich aus einer schweren Lebenskrise und dem Bewusstsein des Todes ergeben, gehört ein schmales Büchlein von Lydie Violet. Es trägt den programmatischen Titel: Das Leben wagen . Lydie Violet ist 40 Jahre alt, als sie einen epileptischen Anfall erleidet. Ein unheilbarer Gehirntumor wird diagnostiziert, der ihr nur noch wenige Jahre zu leben lässt. Lydie Violet entscheidet sich gegen die Chemotherapie und für ein relativ »normales« Leben. Sie beschreibt den beruflichen und sozialen Tod, den sie erlebt, den Leidensweg durch die Kliniken – aber auch die guten Momente, die Freunde, die Einsichten. In den Worten der todkranken Lydie Violet findet sich vieles wieder, was Menschen in schweren Krisensituationen erfahren: Wer näher dran ist am Tod, der ist auch näher dran am Leben. Das Buch, das sie zusammen mit ihrer Freundin Marie Desplechin verfasst hat, hätte auch »Glück« heißen können, sagen die Autorinnen, die 2005 mit dem Prix Medici für Essayistik ausgezeichnet wurden. »Mir scheint, wir alle stehen morgens auf dieselbe Weise auf. Unsere ersten Gedanken gelten nicht dem Tod, der uns doch sicher ist. Wir denken, erwartungsfroh oder ängstlich, an den Verlauf des bevorstehenden Tages, an die Menschen, denen wir begegnen, die wir hassen oder lieben werden, an die große Masse unserer Artgenossen, die dem Leben eine Form gibt. Im Grunde ändert sich nichts. Die Dinge machen sich in anderer Weise bemerkbar.«
    Für Lydie Violet beginnt ein neues Leben. »Ich lebe, als hätte die Zeit angehalten. … Die Zukunft war, das weiß ich noch, ein weites, offenes Feld, an dessen äußersten Rand ich Pfade in den Schatten abgehen sah. Jetzt ist die Zukunft ein Schatz, der in meine Hände passt, ein strahlendes Kleinod, dessen Licht jeden Augenblick verblassen kann und das verschmilzt mit dem, was ich früher mein Leben zu nennen pflegte.« Sie erlebt, wie Freunde ihr nichtssagende Floskeln schreiben, und sie erlebt, wie Menschen sich unendlich liebevoll um sie kümmern, bei ihr Wache halten, sie pflegen, tragen, zum Arzt fahren, einladen, ablenken: »Ich frage mich, wie die Welt aussähe, wenn wir uns auch in normalen Zeiten so gut umeinander kümmern würden.« Lydie Violet erkennt, dass Leben »jetzt« ist. Sie lebt und handelt entschiedener als je zuvor: »Ich bin sehr gefährlich geworden. Ich sehe immer weniger Gründe, nicht zur Tat zu schreiten. … Ich habe nicht mehr die Muße zu zögern.« Obwohl die Krankheit nur langsam voranschreitet, hat ihr neues Leben kaum noch Ähnlichkeit mit dem Leben vor der Diagnose.

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