Das letzte Hemd ist bunt: Die neue Freiheit in der Sterbekultur (German Edition)
die Garantiefunktionen der Institutionen in Zweifel gezogen werden, dann ist die Person auf sich selbst angewiesen.
Damit wachsen die Anforderungen an Unternehmensführungen erheblich. Sie müssen Veränderungsprozesse initiieren und damit »Krisen« erzeugen. Der Preis der geforderten Flexibilität ist der Verlust von Stabilität und Sicherheit. Moderne Organisationen geraten in einen Dauerkonflikt: Sie müssen Stabilität geben und zugleich diese Stabilität immer wieder zerstören, um den sich wandelnden Anforderungen gerecht zu werden. Die größte Herausforderung dabei ist es, die natürliche menschliche Reaktion auf Unsicherheit und Verlust anzunehmen und ihre Verarbeitung zu unterstützen. Dafür ein Bewusstsein und Kompetenzen zu entwickeln ist eine Aufgabe, für die Führungskräfte mehr benötigen als theoretische Kenntnisse und kognitives Wissen: Lebens- und Leidenserfahrung, die Einsicht in Endlichkeit und Grenzen der menschlichen Belastbarkeit. Der Erwerb solcher Kompetenzen steht auf keinem Lehrplan der Managementausbildung. Unternehmen, die gerade heute auf das Engagement und die Einsatzbereitschaft ihrer Mitarbeiter angewiesen sind, können aus den Erfahrungen und Erkenntnissen der Trauerbegleitung viel gewinnen.
Niemand wird bestreiten, dass sich unsere Welt in rasender Geschwindigkeit verändert und dass Unternehmen auf diese Veränderungen reagieren und sie gestalten müssen. Die Erwartung an Führungskräfte und Mitarbeiter wird klar formuliert: »Liebe den Wandel! Sei ein Change-Manager!« Musste man früher die Änderung rechtfertigen, so muss man heute die Nicht-Änderung begründen. Es gelten neue Regeln: Nicht mehr Gehorsam, Disziplin und Konformität sind gefordert, sondern Veränderungsfähigkeit und schnelle Reaktion, Flexibilität und Handlungsfähigkeit.
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In den meisten Unternehmen ist die Arbeit nicht mehr auf bestimmte Funktionen festgelegt, sondern an Aufgaben orientiert. Die kurzfristige, aufgabenorientierte Arbeit verändert auch die Zusammenarbeit zwischen den Beschäftigten. In der Befehlskette pyramidenförmig aufgebauter Institutionen tut man seine Pflicht und erfüllt seine Funktion. Am Ende wird man wegen seiner Leistung oder seines Dienstalters belohnt. Möglicherweise wird man auch übergangen oder degradiert. In jedem Fall jedoch ist die Infrastruktur der Firma völlig klar. Bei veränderlicher, kurzfristiger und aufgabenorientierter Arbeit ist sie das nicht. Die Struktur des Unternehmens ist nicht mehr so exakt definiert wie einst – die Zukunft ist nicht vorhersagbar.
Arbeit ist kein Besitzstand und hat auch keinen festgelegten Inhalt mehr. Sie wird zu einem Punkt in einem Netz, das sich ständig verändert.
Die Kehrseite der Veränderungen
Es ist kein Zufall, dass flexible Organisationen besonderen Wert auf Fähigkeiten im Bereich »zwischenmenschlicher Beziehungen« legen und eigens Trainingsprogramme dafür anbieten. In solchen Institutionen müssen die Menschen mit schlecht definierten Situationen umgehen können. Die von flexiblen Organisationen verlangte soziale Qualifikation besteht in der Fähigkeit, mit andern in Arbeitsgruppen gut zusammenzuarbeiten, die nur für kurze Zeit bestehen und in denen man seine Kollegen nicht genauer kennen lernt. Wird die Arbeitsgruppe aufgelöst und man selbst in eine neue Gruppe versetzt, muss man sehen, dass man möglichst schnell in dem neuen Umfeld zurechtkommt.
Die Zeit rast, und wir rasen mit. In immer kürzeren Abständen müssen immer mehr Veränderungen verarbeitet werden. Wir müssen uns fortlaufend an Situationen anpassen, die nicht beständig sind, und leben in einer instabilen, provisorischen Arbeitswelt. Doch jeder Mensch hat ein eigenes Zeitmaß, wenn es gilt, Verluste zu verarbeiten und sich neu zu orientieren. Die Kehrseite dieses Wandels erleben all jene, die den Anforderungen zeitweise oder auf Dauer nicht gewachsen sind.
Seit Mitte der 1980er Jahre verzeichnen Arbeitsmedizin und Unternehmensforschung die neue Bedeutung von Angst, psychosomatischen Störungen und Depressionen. Als Heinz Nixdorf auf der Cebit 1986 mit einem Herzinfarkt zusammenbrach, war Burn-out im Management ein öffentliches Thema. Jenseits der Extremfälle gilt: Immer weniger Menschen müssen immer mehr arbeiten. Immer mehr Menschen fühlen sich durch steigende Belastung im Beruf bei knapperen Zeitbudgets unter Druck gesetzt. Die psychischen Belastungen am Arbeitsplatz wachsen. Der Umsatz an Beruhigungsmitteln und Antidepressiva
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