Das letzte Hemd ist bunt: Die neue Freiheit in der Sterbekultur (German Edition)
wächst jährlich um 10 Prozent. Jeder zehnte Fehltag, ermittelte das AOK-Institut, war 2010 auf akute Erschöpfung und Depression zurckzuführen. Im Vergleich zu 1999 ist das ein Anstieg um 80 Prozent. Aus einer Untersuchung der Techniker Krankenkasse geht hervor, dass gerade Zeitarbeit – bei der seit Jahren die höchsten Wachstumsraten unter den Beschäftigungsformen zu verzeichnen sind – der Gesundheit der Beschäftigten schadet. Im Jahr 2010 war jeder Leiharbeiter in Deutschlang durchschnittlich 15 Tage krankgeschrieben und damit mehr als andere Arbeitnehmer. Die Ursachen dafür lassen sich zum Teil auf das Prinzip der Zeitarbeit selbst zurückführen. Arbeitsplatzunsicherheit, mangelnde Entwicklungsmöglichkeiten, häufig wechselnde Einsatzorte sowie Niedrigstlöhne gingen offenkundig »auf die Nerven und auf die Knochen«.
Die Gründe für die zunehmenden Belastungen sind nicht allein in den objektiven Bedingungen der Arbeitswelt zu finden. Objektiv betrachtet ist das Arbeiten heute sicherer und verschlingt weniger Zeit als vor Jahrzehnten. Bis Mitte der 1950er Jahre war die Sechs-Tage-Woche die Regel, körperliche Schwerarbeit war verbreitet, Unfälle häufiger. Bestimmungen zum Arbeitsschutz, optimierte und vielfach automatisierte Prozesse haben den Arbeitsplatz weithin zu einem angenehmeren Ort gemacht – an dem immer weniger Zeit verbracht wird. Arbeitsstunden und Arbeitsvolumen haben sich in Deutschland seit 1970 fast jedes Jahr verringert. Leistete damals noch jeder Erwerbstätige in Westdeutschland durchschnittlich 1 966 Arbeitsstunden, waren es 1991 nur noch 1 559 Stunden, und im Jahr 2007 lag der Wert für Gesamtdeutschland bei 1 433 Stunden. Die Produktivität pro Arbeitsstunde verbesserte sich zwischen 1991 und 2007 um rund ein Drittel.
Wie passt das zusammen? Für den Anstieg der seelischen Belastungen am Arbeitsplatz gibt es mehrere Gründe. Durch den Zerfall von Familien und fehlende Bindungen gewinnt die Erwerbsarbeit eine größere Bedeutung. Für viele Menschen ist der Beruf nicht nur Einnahmequelle, sondern er gibt ihrem Leben Sinn und Inhalt. Damit steigt der Druck, perfekt zu funktionieren – und die Enttäuschung, wenn dies nicht genügt oder nicht zum Erfolg führt. Das Scheitern wiegt umso schwerer. Hinzu kommt, dass in einer zunehmend entgrenzten Arbeitswelt die Menschen gefordert sind, selbst Grenzen zu ziehen und persönliche Grenzen zu akzeptieren.
Im Kampf gegen die Verluste, die der Leistungs- und Veränderungsdruck in Unternehmen für Menschen bedeutet, kommt Führungskräften eine Schlüsselrolle zu: Sie müssen in der Lage sein, die Belastung ihrer Mitarbeiter zu erkennen, die Grenzen dieser Belastbarkeit zu akzeptieren, Leiden wahrzunehmen und die Verlusterfahrung in Veränderungsprozessen als »Trauerarbeit« anzuerkennen. Das gilt im besonderen Maße für den Umgang mit Entlassungen, die Menschen sehr oft in eine existenzielle Krise stürzen.
Überlebenden-Depression
Personalabbau in Unternehmen ist Alltag und beschränkt sich nicht nur auf Krisenzeiten. Auch im Aufschwung werden Geschäftsbereiche verlagert, Kosten gesenkt, Menschen entlassen. Für die Betroffenen ist die Kündigung in den allermeisten Fällen ein schwerer Schlag, ein Schock – und hinterlässt auch bei den nicht unmittelbar Betroffenen eine tiefe Verunsicherung und Erschütterung, die viele Gemeinsamkeiten mit dem aufweist, was »Hinterbliebene« erleben. In den USA spricht man von einer »Überlebenden-Depression«, die mit Passivität, eingeschränkter Lernfähigkeit und Niedergeschlagenheit einhergeht. Dazu kommen oft auch Aggressionen. »Die meisten Mitarbeiter, die im Unternehmen bleiben, empfinden neben spontaner Erleichterung auch Schuldgefühle gegenüber den entlassenen Kollegen«, sagt der Psychologe Thomas Kieselbach, der im Rahmen eines EU-Projekts die Auswirkungen von Umstrukturierungen auf die Gesundheit der Mitarbeiter untersucht hat. Viele, die von Entlassungen verschont blieben, leiden anschließend stärker unter Stress und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Sie machen sich Gedanken darüber, warum es sie nicht getroffen hat. Wenn im Unternehmen diese emotionalen Faktoren zu wenig beachtet werden und die möglichst reibungslose »Entsorgung« der Mitarbeiter im Vordergrund steht, kann vielleicht das direkte und kurzfristige Ziel der Kostensenkung erreicht werden; die indirekten Folgen in Form von sinkender Leistungsfähigkeit und schwindender Loyalität können aber dazu führen, dass
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