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Das letzte Hemd

Das letzte Hemd

Titel: Das letzte Hemd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kirsten Puettjer , Volker Bleeck
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Oder doch Konrad Adenauer? Philipp Lindners Hand griff wie
automatisch zu seinem Blackberry, wie immer, wenn er sich bei etwas unsicher
war. Obwohl unsicher der falsche Ausdruck war – ein Typ wie er war nie
unsicher, für ihn war etwas höchstens »faktenunterversorgt« oder
»informationsdefizitär« oder was auch immer für ein zusammengesetztes Modewort
gerade in der Parteigeschäftsstelle kursierte. Er verfügte über eine
grundsolide Wikipedia-Halbbildung, die ständig optimiert, wenn auch nie durch
tatsächliches Interesse ergänzt wurde. Sein rechter Daumen war ständig in
Abrufbereitschaft seiner Google-Standleitung, um unauffällig etwas nachschauen
und dann lässig mit seinem WWW -Wissen glänzen zu
können. Im Bluffen war Philipp Lindner inzwischen ein echter Meister, nicht nur
bei den jungen Praktikantinnen in der Geschäftsstelle, die ihm immer
bewundernd zuhörten, wenn er jovial und ganz weltmännisch erläuterte, wer
Machiavelli war oder Lord Nelson – auch wenn er Machiavelli im ersten Moment
selbst für ein Pastagericht beim Italiener und Lord Nelson für eine
Zigarettenmarke gehalten hätte.
    Aber angenommen, sein Parteifreund Strüssendorf starb wirklich bald.
Dann würde er die parteiinterne Karriereleiter weiter hinaufklettern können,
und zwar ein gewaltiges Stück, ganz ohne den üblichen politischen Brudermord.
    Dass Strüssendorf aus dem Weg zu räumen war, darüber hatte er sich
schon vor einiger Zeit mit anderen aufstrebenden Jungpolitikern verständigt. Es
hatte sogar schon den Plan gegeben, den Parteifreund zu einer halboffiziellen
Unterredung in dessen privater Wohnung zu besuchen und ihm in diesem
Zusammenhang freundlich, aber bestimmt mitzuteilen, dass er den Weg gefälligst
für die jüngere Generation frei zu machen habe. Dabei war Strüssendorf gerade
mal fünfzehn Jahre älter als die »Backstreet Boys«, wie sie parteiintern halb
spöttisch, halb anerkennend genannt wurden. Dass sie diese Namensgebung als
eine Art Auszeichnung ansahen, war nicht nur ein Zeichen ihres enormen
Selbstbewusstseins – und der Tatsache, dass Frauen in dieser Partei nur wenig
Chancen hatten –, sondern auch ihrer mangelhaften Englischkenntnisse. Aber da
waren sie ja keineswegs allein. Nicht wenige Regierungspolitiker verlangten
zwar von jedem Azubi perfekte Sprachbeherrschung bis hin zur Konversation in
Wirtschaftsenglisch, versagten aber meist schon beim Smalltalk am
Lachshäppchenbüfett. Das war eben Deutschland hier, und der Meinung war auch
Philipp Lindner.
    Das Blackberry immer im Anschlag, ging er den Terminkalender auf
seinem PC durch und formulierte im Kopf schon
einmal eine vor Bedauern und Beileid triefende Kondolenzrede. Zu Strüssendorfs
Gesundheitszustand gab es momentan nichts Neues, der Parteivorsitzende wollte
den inner circle , zu dem Philipp ja jetzt gehörte,
aber demnächst genauer informieren, auch darüber, wie es innerparteilich
weitergehen sollte. Für einen Moment spielte Philipp mit der Idee, selbst den
Parteivorsitzenden oder vielleicht sogar im Krankenhaus anzurufen. Wie sähe das
aus, wäre das eine positiv bewertete Geste in Bezug auf die Außenwirkung?
Besorgter Kollege erkundigt sich nach dem Befinden des Komapatienten – dagegen
konnte eigentlich niemand etwas sagen, das mussten doch alle gut finden. Und
verdächtig machen würde er sich damit auch nicht – oder? Bei der Befragung
durch die Düsseldorfer Polizei war er von einem desinteressiert wirkenden
Beamten nach seiner Beziehung zu dem Opfer gefragt worden; eher beiläufig hatte
der Mann dann noch von ihm wissen wollen, wo er denn an dem Abend gewesen war.
Philipps Lüge, er sei allein zu Hause gewesen und habe einen Vortrag für den
nächsten Tag vorbereitet, hatte der Beamte nickend notiert und sich gleich
darauf verabschiedet. Philipp hätte ja schlecht zugeben können, dass er Besuch
gehabt hatte. Wäre es aber wirklich schlau, sich selbst in den Fokus zu
stellen, indem er im Krankenhaus anrief? Philipp grübelte noch darüber nach,
als frenetischer Applaus ausbrach.
    Den Signalton hatte er nach einem Jubelparteitag in großer Euphorie
auf seinem Mobiltelefon installiert, seitdem kündigte wildes, rhythmisches
Klatschen die Ankunft einer jeden SMS an. Er
griff nach dem Gerät. Wenn das die Nachricht des Parteivorsitzenden war,
brauchte er sich keine weiteren Gedanken um eine Entscheidung machen – eine
Situation, die Philipp immer bevorzugte. Er öffnete die Mitteilung und seufzte
unwillkürlich. Die

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