Das letzte Kind
Baumes am Straßenrand. Die schweren Baumaschinen hinter dem Maschendrahtzaun erschauerten und spuckten Rauch. Es roch nach Diesel und Lehm und heißem Metall. Hunt setzte sich in den Wagen, ließ den Motor an und drehte die Klimaanlage auf. Er schlang die Hände um das Lenkrad, ließ sich von der kalten Luft den Schweiß aus dem Gesicht blasen und dachte an Yoakum, wie er in Handschellen abgeführt worden war. Dann sah er Johnny vor sich. Johnnys Mom. Er dachte daran, wie Yoakum ausgesehen hatte, als er an der feuchten Mulde stand und zusah, wie die Leichen aus der Erde geholt wurden. Wie zornig er gewesen war. Wie angeekelt.
Niemals hatte Yoakum etwas damit zu tun.
Nie im Leben.
Er legte den Rückwärtsgang ein, ließ den großen Wagen aus der Parklücke schießen und fuhr los. Es musste eine Erklärung geben, irgendeinen Grund dafür, dass auf einer in David Wilsons verbeultem Land Cruiser gefundenen Patronenhülse Yoakums Fingerabdruck gewesen war. Wenn diese Erklärung irgendwo zu finden war, dann bei Yoakum zu Hause. Hunt versuchte, nicht an die andere Seite der Medaille zu denken: Wenn Yoakum doch etwas mit den verschwundenen Kindern zu tun hatte, würde sich der Beweis dafür vermutlich ebenfalls dort finden. Hunt hatte weder einen Durchsuchungsbeschluss noch einen Hausschlüssel, aber das war ihm egal. Ein Stein durch das Fenster würde genügen. Ein Stemmeisen an der Tür. Hier ging es nicht um Polizeiarbeit. Hier ging es um Freundschaft. Es ging um Glauben und Vertrauen und um die schmerzhaft brennende Flamme, die bei dem Gedanken an den Verrat des Chiefs aufloderte. Der Chief hatte Yoakum verkauft, damit das Department gut aussah, damit alles einen sauberen Eindruck machte, während dieser Fall immer mehr zu stinken begann. »Bullshit«, murmelte Hunt.
Aber der Fingerabdruck ...
Er schüttelte den Kopf.
Der Fingerabdruck war heikel.
Hunt pflügte sich durch den Verkehr und schwenkte nach links auf die vierspurige Straße, die quer durch die Stadt führte. Yoakum wohnte in einem alten Viertel voller Bungalows auf erhöhten Grundstücken an betonierten Gehwegen, die sich über Baumwurzeln, dick wie Männerbeine, aufwölbten. Die meisten Leute wohnten vorübergehend hier, aber die Gegend war gepflegt, schattig und ruhig.
Hunt entschied sich für das Stemmeisen.
Er bog nach rechts und drei Straßen weiter nach links. Yoakum bewohnte ein eingeschossiges Haus mit spitzem Dach. Die Zedernholzverkleidung war alt und mattsilbern verwittert. Die BIumenbeete leuchteten in bunten Farben. Die Büsche waren gestutzt, die Bäume beschnitten. Ein blauer, geschlossener Van stand in der Einfahrt. Weiße Lettern leuchteten auf der Seite.
SBI.
Hunt ließ den Wagen einen halben Block vor dem Haus am Randstein ausrollen. Die Nachbarn standen in ihren Vorgärten: verblichene Frauen in Morgenröcken, alte Männer, ein paar langhaarige Jugendliche, die eigentlich etwas Besseres zu tun haben sollten. In allen Gesichtern spiegelte sich das Gleiche: Überraschung und Anteilnahme. Bei Yoakums Haus gingen Männer in Windjacken mit aufgedruckten Lettern zur Vordertür ein und aus. Hunt sah weder Oliver noch Barfield, aber das war gleichgültig.
Das SBI war in Yoakums Haus.
Sie hatten einen Durchsuchungsbeschluss.
SECHSUNDVIERZIG
» E r wollte mich umbringen«, sagte Jack. »Du hast es gesehen. Dieser große Motherfucker wollte mich totmachen.«
»Wenn er dich totmachen wollte, wärst du jetzt tot.« Johnny kniete sich neben Freemantle. »Stell dich nicht so mädchenhaft an.«
»Fass ihn nicht an, Johnny. Was machst du da?«
»Ich fass ihn nicht an. Reg dich ab.« Johnny beugte sich über Freemantle. »Ihm geht's einfach schlecht.« Freemantles Lippen bewegten sich, und Johnny hatte das Gefühl, dass er etwas sagte.
Er beugte sich tiefer.
»... Haus brennt ... Momma brennt ...«
Johnny hörte es.
»... Haus brennt ... Momma brennt ...«
Die Worte versiegten. Johnny richtete sich auf. »Hast du das gehört?«
»Nein.«
»Komm, hilf mir.«
»Leck mich.«
»Er braucht Medizin, oder er muss ins Krankenhaus.«
»Gut«, sagte Jack. »Dann fahren wir nach Hause und rufen ihm einen Krankenwagen. Sollen die sich um ihn kümmern.«
»Wenn wir einen Krankenwagen rufen, dann rufen sie die Polizei, und ich erfahre nicht, was er weiß.«
»Soll die Polizei ihn doch danach fragen. Das ist ihre Aufgabe.«
»Die Polizei sucht ihn wegen Mordes. Sie glauben, Alyssa ist tot. Sie werden ihn nicht nach ihr fragen. Jedenfalls
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