Das letzte Kind
Hunt. »Und geben Sie mir Ihren Namen.«
Hunt legte auf und nahm Kurs auf die Bibliothek. Für Yoakum konnte er nichts tun. Die Arbeiten an der Leichenfundstätte bei Jarvis waren im Gange. Damit blieb Johnny. Ein verkorkstes Kind. Durchgebrannt mit einer gestohlenen Schusswaffe.
Freigelassene Sklaven.
Freemantle.
Hunt kannte den Namen, weil er ihn in Johnnys Buch gesehen hatte. Er hatte nur einen kurzen Blick darauf geworfen, aber er erinnerte sich noch, was da gestanden hatte: »John Pendleton Merrimon, Wundarzt und Abolitionist.« Und auf der nächsten Seite war noch ein Bild gewesen. Er hatte es kaum wahrgenommen, aber jetzt sah er es vor sich.
Isaac Freemantle.
Und da war eine Landkarte gewesen.
Hunt gab Gas; sein Rücken presste sich gegen das warme Lederpolster. Johnny wusste, wo Freemantle zu finden war, und Freemantle war ein entlaufener Strafgefangener und Mörder.
Hunt schaltete sein Blaulicht ein. Mit fünfundsiebzig Meilen pro Stunde raste er die Main Street hinunter, fuhr auf den Parkplatz und ließ den Wagen mit laufendem Motor stehen. Zwei Minuten später kam er mit dem Buch zurück. Er blätterte, bis er die Seite gefunden hatte, und betrachtete John Pendleton Merrimons Foto: die breite Stirn, die wuchtigen, männlichen Züge. Er trug einen strengen schwarzen Anzug und hatte keinerlei Ähnlichkeit mit Johnny, vielleicht abgesehen von den Augen. Sie waren dunkel.
Hunt las, was da über Isaac stand, der zum Zeichen seiner neuen Freiheit den Namen Freemantle angenommen hatte. Auch von ihm gab es ein Bild: ein großer Mann in groben Kleidern und mit einem Schlapphut. Er hatte riesige Hände und einen ungleichmäßigen Bart mit weißen Strähnen. Johnny hatte erzählt, Freemantle sei ein Mustee-Name, und Hunt hatte den Eindruck, dass Isaac Freemantles Gesichtszüge auf indianische Vorfahren schließen ließen. Etwas an den Augen vielleicht. Oder die Wangenknochen.
Die Landkarte füllte die Seite gegenüber aus. Da war der Fluss. Der Sumpf. Eine lang gestreckte Landzunge, an drei Seiten von Wasser umgeben.
Hush Arbor.
Hunt verglich die Karte im Buch mit der Straßenkarte aus seinem Handschuhfach. Hush Arbor, was immer das sein mochte, lag im einsamsten Teil des Countys. Da gab es nichts als Wald und Sumpf und den Fluss. In Raven County war kein Freemantle bei Telefon- und Versorgungsunternehmen gemeldet. Also konnten diese Informationen bedeutungslos sein, anderthalb Jahrhunderte alt, aber Hunt brauchte den Jungen. Es gab ein Dutzend Gründe, weshalb er ihn brauchte.
Er legte den Gang ein.
Hush Arbor lag im Nordwesten.
ACHTUNDVIERZIG
O fficer Taylor fuhr zuerst zu Ken Holloways Büro in der Innenstadt. Auf dem großen Parkplatz, der das Gebäude an zwei Seiten umrahmte, hielt sie Ausschau nach einem weißen Cadillac Escalade mit goldenen Lettern, aber sie fand keinen. Sie parkte den Streifenwagen vor dem Gebäude, griff prüfend an ihren Gürtel und ging durch die großen Glastüren. Es gefiel ihr, wie der Gürtel auf ihren Hüften saß. Ernst zu nehmender Stahl. Eine professionelle Ausrüstung. Taylor war gern Polizistin. Sie liebte die Autorität, die eine Dienstmarke verlieh, und die blaue Uniform, die niemals Falten bekam. Sie fuhr gern schnell. Sie verhaftete gern böse Menschen.
Ihre Gummisohlen quietschten leise auf dem polierten Marmorboden.
Eine Frau saß hinter der breiten Empfangstheke, und Taylor spürte ihren Blick auf dem ganzen Weg durch die Halle. Die Frau wirkte steif und teuer gekleidet, ihr Blick war abschätzig, ihre Stimme überheblich. »Ja?«, fragte sie. Taylor konnte sie auf den ersten Blick nicht ausstehen.
»Ich möchte Ken Holloway sprechen.« Sie benutzte ihre Cop-Stimme, die sagte: Zwingen Sie mich nicht, mich zu wiederholen. Die Empfangsdame zog eine Braue hoch. Ihre Lippen bewegten sich kaum. »Worum geht es?«
»Es geht darum, dass ich ihn sprechen möchte.«
»Aha.« Sie spitzte die schmalen Lippen. »Mr. Holloway ist heute nicht im Hause.«
Taylor zog Block und Stift heraus. »Und Sie heißen?« Die Leute hassten den Block und den Stift. Sie hatten es nicht gern, wenn ein Polizist sich Notizen über sie machte. Widerstrebend nannte die Rezeptionistin ihren Namen, und Taylor notierte ihn. »Und Sie sagen, Mr. Holloway ist nicht im Hause?«
»Ja. Ich meine, nein. Er ist nicht da.«
Die Empfangsdame war blass und unterwürfig geworden, aber Taylor lächelte niemals, wenn sie ihre Autorität geltend machte.
Sie redete in knappen Sätzen und behielt
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