Das letzte Kind
schon schlimm genug. Zuzusehen, wie er sie aus dem Bett zerrte, wäre noch schlimmer. Es wäre eine Erniedrigung.
»Ich werde ihn allein finden.« Er ging zur Tür.
»Wir sind noch nicht fertig miteinander, Detective.«
»Nein«, sagte Hunt. »Das sind wir nicht.«
Seine Hand lag auf dem Türknauf, als Holloways Handy klingelte. Er wartete ab, während Holloway sich meldete. »Ja.« Holloway wandte ihm den Rücken zu. »Sind Sie sicher? Na schön, ich rufe die Polizei an. Ich bin in zehn Minuten da.« Er klappte das Handy zu und drehte sich wieder um. »Meine Wachschutzfirma«, sagte er. »Wenn Sie Johnny immer noch suchen wollen, können Sie bei meinem Haus anfangen.«
»Warum?«
»Weil der kleine Scheißer einen Stein durch mein Fenster geworfen hat.«
»Warum glauben Sie, dass es Johnny war?« Holloway nahm seine Schlüssel. »Weil es immer Johnny ist.«
»Immer?«
»Es ist das fünfte Mal, verdammt.«
Johnny fuhr durch dunkle Straßen, und das Regenwasser rann wie Quecksilber an den Scheiben herunter. Tiffany Shores Eltern waren reich und wohnten nur drei Straßen weit von Ken Holloway entfernt. Johnny war einmal auf einer Party dort gewesen. Als er sich Tiffanys Haus näherte, fuhr er langsamer, dann hielt er auf der Straße an. Er sah Polizeiwagen und Schatten, die sich hinter den geschlossenen Vorhängen an den Fenstern bewegten. Er beobachtete das Haus eine ganze Weile, dann betrachtete er die Nachbarhäuser zu beiden Seiten. Warmes Licht flutete aus einem davon, und draußen auf der dunklen Straße fühlte sich Johnny sehr allein. Niemand sonst wusste und niemand konnte verstehen, was sich hinter den Mauern von Tiffanys Haus abspielte, wie ihre Familie litt: die Angst und die Wut, die langsam versiegende Hoffnung und dann das Ende von allem.
Niemand wusste, was Johnny wusste.
Außer ihren Eltern, dachte er.
Ihre Eltern wussten es.
Hunt saß in seinem Wagen und beobachtete, wie Holloway aus dem Haus kam. Der Mann warf ihm einen eisigen Blick zu, den Hunt gern erwiderte, dann setzte er sich in seinen Wagen. Der große Motor sprang an, und der Escalade bog schwankend auf die Straße hinaus. Hunt lauschte dem Regen auf seinem Wagendach und betrachtete das Licht, das aus Johnnys Haus fiel. Katherine schlief dort drinnen. Er stellte sich vor, wie sie sich unter die Decke vergraben hatte, zusammengekrümmt vor der Welt.
Er klappte seinen Laptop auf und gab Johnny Merrimons Namen ein. Ken hatte mehrere Anzeigen erstattet, aber eine Festnahme war nicht aktenkundig. Auch kein Haftbefehl. Holloway mochte annehmen, dass Johnny etwas mit dem Vandalismus an seinem Haus zu tun hatte, konnte es jedoch bisher nicht beweisen.
Warum sollte Johnny Steine in Holloways Fenster werfen? Dafür gab es nur eine einleuchtende Erklärung: Der Junge wollte, dass der Mann verschwand und seine Mutter in Ruhe ließ, und er hatte die einzige Methode gefunden, die jedes Mal Erfolg haben würde. Nie im Leben würde ein Mann wie Holloway sein Haus unbewacht lassen. Nicht über Nacht.
Fünfmal, und nie erwischt worden. Hunt schüttelte den Kopf und bemühte sich, nicht zu lächeln. Er mochte den Bengel wirklich.
Hunt blieb noch zwei Minuten im Wagen sitzen und brütete über der Akte Tiffany Shore. Sie war dünn. Er wusste, was sie angehabt hatte, als sie das letzte Mal gesehen worden war. Er hatte eine Liste von unveränderlichen Kennzeichen: ein Muttermal von der Größe eines Zehn-Cent-Stücks auf dem rechten Schulterblatt, eine hakenförmige, noch rosige Narbe an der linken Wade. Sie war zwölf Jahre alt und blond, ohne nennenswerte Zahnbehandlungen, ohne Operationsnarben. Er kannte ihre Größe, ihr Gewicht und ihr Geburtsdatum. Sie hatte ein Handy, aber aus den Unterlagen ging hervor, dass seit gestern keine ausgehenden Gespräche mehr stattgefunden hatten. Das war nicht allzu viel. Was sie hatten, waren zwei Kinder, die Tiffany hatten schreien hören, doch die konnten sich nicht über die Farbe des Wagens einigen, in dem das Mädchen verschwunden war. Hunt hatte außerdem ihre besten Freunde befragt. Soweit sie wussten, hatte Tiffany keinen heimlichen Freund und keine Probleme zu Hause. Sie hatte gute Zensuren, liebte Pferde und hatte vielleicht einmal einen Jungen geküsst. Ein ganz normales Mädchen.
Hunt kritzelte eine Notiz in die Akten: Waren Tiffany und Alyssa Freundinnen? Vielleicht hatten sie beide den falschen Mann gekannt.
Er dachte an all das, was er nicht hatte. Er hatte keine Täterbeschreibung, keine
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