Das letzte Kind
Die meisten dieser Perversen schnappten sich ihr Opfer und tauchten an Ort und Stelle unter. In diesem Punkt hatte Johnny Merrimon recht. Und auch wenn manche Entführungen sorgfältig geplant wurden, waren die meisten doch Gelegenheitstaten: ein Kind, das allein im Auto saß oder unbeaufsichtigt durch einen gut besuchten Supermarkt spazierte. Ein Kind, das allein war.
Wie Alyssa Merrimon.
Sie war in der Abenddämmerung auf dem Heimweg gewesen, allein auf einer leeren Straße. Niemand hatte wissen können, dass sie dort sein würde. Niemand hatte diese Tat planen können. Bei Tiffany Shore war es genauso. Sie hatte sich nach dem Läuten der Schulglocke noch in der Nähe des Parkplatzes herumgetrieben. Eine Gelegenheit. Und ein Verlangen.
Hunt bremste vor einer roten Ampel und bog dann links ab, ohne anzuhalten. Das Heck brach aus, er korrigierte und fing den Wagen ab. Er dachte an das Böse und an den harten Klumpen des Halfters unter seinem Arm.
Als die Meldung von Tiffanys Entführung gekommen war, hatte Hunt eine massive Reaktion veranlasst. Er hatte Streifenwagen losgeschickt, die den Aufenthaltsort bekannter Sexualstraftäter ermitteln sollten. Die meisten davon kamen als Täter eher nicht in Frage: Sie waren Voyeure und Exhibitionisten, aber es gab auch viele, die wegen Vergewaltigung, Kindesmissbrauchs oder anderer Abscheulichkeiten verurteilt waren. Hunt führte eine kurze Liste mit den Schlimmsten, den geisteskranken Sadisten, die zu fast allem fähig waren. Diese Männer waren machtlos gegen das Böse, das sie antrieb. Es gab keine Heilung, keine Besserung. Bei diesen Arschlöchern war es nur eine Frage der Zeit, und deshalb behielt Hunt sie im Auge. Er wusste, wo sie wohnten und welche Autos sie fuhren, er kannte ihre Gewohnheiten und ihre Vorlieben. Er hatte Fotos gesehen und mit Opfern gesprochen, und er hatte die Narben aus erster Hand gesehen. Keins dieser Schweine sollte frei herumlaufen.
Nicht jetzt.
Niemals.
Die meisten konnte man streichen; sie waren ausfindig gemacht und befragt worden. Fast alle hatten einer Hausdurchsuchung zugestimmt, und alle diese Durchsuchungen hatten nichts erbracht. Diejenigen, die ihre Zustimmung verweigert hatten, wurden ständig überwacht, und Hunt wurde durch regelmäßige Berichte auf dem Laufenden gehalten. Er wusste, was sie aßen und wann sie es aßen, ob sie allein waren oder nicht — und wenn sie nicht allein waren, mit wem sie zusammen waren. Er wusste, wo sie waren und was sie taten. Ob sie wach waren oder schliefen. Ob sie sich irgendwo aufhielten oder unterwegs waren. Hunt nahm Anrufe entgegen und hielt seine Leute auf Trab, während sie die Liste abarbeiteten.
Er ließ sich die Namen durch den Kopf gehen. Keiner auf der Liste war knapp zwei Meter groß. Keiner hatte Narben im Gesicht, wie der kleine Merrimon sie beschrieben hatte. Wenn Cross recht hatte, bedeutete das, sie hatten einen neuen Akteur, einen, den ihr Raster nicht erfasste. Und wenn Cross nicht recht hatte ...
Es gab zahllose Möglichkeiten.
Hunt zog ein Foto von Tiffany Shore aus seiner Jackentasche und warf einen Blick darauf. Er hatte es erst vor wenigen Stunden von ihrer verzweifelten Mutter bekommen. Es war ein Schulfoto; Tiffany lächelte befangen. Er suchte nach Ähnlichkeiten mit Alyssa, aber es gab nicht viele. Alyssa hatte dunkles Haar und ein zartes Gesicht, sie sah jung, klein und unschuldig aus, und sie hatte die gleichen dunklen Augen wie ihr Bruder. Tiffany hatte volle Lippen, eine perfekt geformte Nase und Haar wie gelbe Seide. Auf dem Bild sah man einen anmutigen Hals, kleine Brüste und ein wissendes Lächeln, das die Frau ahnen ließ, die sie eines Tages vielleicht werden würde. Die Mädchen sahen aus, als hätten sie nur wenig miteinander gemeinsam, doch das stimmte nicht.
Sie waren unschuldig, alle beide, und er war für sie verantwortlich. Er.
Und niemand sonst.
Dieser Gedanke köchelte noch immer in seinem Kopf, als sein Handy klingelte. Er warf einen Blick auf das Display. Der Chief. Sein Boss. Er ließ es viermal klingeln, dann meldete er sich wider besseres Wissen.
»Wo sind Sie?« Der Chief verschwendete keine Zeit. Es war kaum zwölf Monate her, dass Alyssa verschwunden war, und jetzt wurde schon wieder ein Mädchen vermisst. Auch er stand unter Druck, das wusste Hunt: Tiffanys Familie, die Stadtverwaltung, die Presse.
»Ich bin auf dem Weg zu Katherine Merrimon. Bin in ein paar Minuten da.«
»Sie sind mein leitender Detective. Sie sollten bei
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