Das letzte Kind
sprach Worte, die er aus einem Buch gelernt hatte, zerdrückte Wacholderbeeren zwischen den Fingern und rieb sich den Saft auf die Brust. Er steckte Schlangenwurzeln in seine Hosentaschen, hob die aus Birkenrinde geschnitzte Kinderfigur auf und legte auch sie ins Feuer. In einem Funkenregen loderte sie auf, und blasser weißer Rauch stieg empor. Johnny schaute erst weg, als sie verbrannt war. Als Letztes warf er die Reste seiner Kindheitsbibel in die Flammen.
Er sah den Sekundenbruchteil, in dem er alles noch hätte zurücknehmen können: Er hätte das Buch den gierigen Fingern des Feuers entreißen und sich auf den Heimweg machen können immer noch das Kind seiner Mutter, immer noch schwach. Aber er ließ den Augenblick verstreichen. Die Seiten kräuselten sich, schwarzer Rauch stieg auf, und dann war es getan.
Er war bereit.
Der Wagen stand noch im dunklen Vorgarten des alten Ehepaars unten an der Straße. Johnny sah ihn schon, als er einen Nachbargarten durchquerte. Der Rauchgeruch hing an seiner feuchten Haut, die dunkel war von Beerensaft und Asche. Er sprang über einen Zaun und landete neben einem frisch umgegrabenen Beet mit zarten jungen Pflanzen. Er wollte zum Wagen laufen, aber da strahlte Licht in einem hinteren Fenster des Hauses auf, und er erstarrte. Da war die alte Frau, und ihre von Adern überzogenen Hände lagen still wie Blätter auf dem gelben Waschtisch im Badezimmer. Sie senkte den Kopf; Tränen rannen durch eine Falte in ihrem Gesicht und dann durch eine zweite. Ihr Mann erschien hinter ihr. Er legte ihr die Hand seitlich an den Hals und sagte ihr leise etwas ins Ohr. Einen Augenblick lang glitt etwas Leichteres über ihr Gesicht, ein Lächeln fast. Sie lehnte sich mit dem Rücken an seine spröde Brust, und so blieben sie friedlich stehen.
Johnny berührte seine eigene Brust. Er fühlte Schweiß und Asche und das tiefe Pochen seines Herzens. Warum weinte die alte Frau wohl, und was mochte der Mann gesagt haben, um das Lächeln auf ihr Gesicht zu zaubern? Er dachte an seinen Vater, der immer gewusst hatte, was zu sagen oder zu tun war. Als er das alte Ehepaar so sah, wollte sich ein bitterer Klumpen in seinem Bauch festsetzen, aber Johnny zerquetschte ihn mit der reinen Kraft seines Willens. Eine Sekunde lang blitzten seine Zähne weiß. Dann schlich er sich unter dem Fenster vorbei und verschwand.
Sie sahen ihn nicht.
Die meisten sahen ihn nie.
Die Luft im Wagen roch alt und abgestanden. Johnny presste sich an das steife Leder des Sitzes, bog den Rücken durch und schob die Hand in die Hosentasche. Die Blätter waren zerdrückt und verknittert, und ihr Geruch erinnerte an Kiefernharz und Feuer. Er strich sie auf dem Oberschenkel glatt und knipste eine Taschenlampe an. Die Namen auf dem Papier waren von seiner Hand geschrieben und die Adressen auch. Notizen und Daten waren an den Rand gekritzelt.
Sechs Männer. Sechs Adressen. Vorbestrafte Sexualstraftäter. Böse Männer. Sie machten ihm Angst, aber es war weniger als ein Tag vergangen, seit Tiffany Shore entführt worden war, und Johnny vermutete, dass es derselbe Mann gewesen war, der auch Alyssa geholt hatte. Es waren die Schlimmsten, die Johnny hatte finden können, und er hatte angestrengt gesucht. Er kannte ihre Gewohnheiten und ihre Jobs, er wusste, welche Fernsehsendungen sie gern sahen und wann sie ins Bett gingen. Wenn einer sich jetzt anders benähme, würde er es merken.
Er schob die Angst von sich und legte die Finger an den Zündschlüssel. Im Spiegel sah er seine Augen; sie hatten rote Ränder, und die Lider waren geschwärzt. Er war unantastbar, sagte er sich. Ein Krieger.
Er startete den Motor und legte den Gang ein.
Er war ein Indianerhäuptling.
FÜNFZEHN
H unt rief Yoakum vom Wagen aus an. Es war mitten in der Nacht; die Straßen waren leer und vom Regen sauber gewaschen.
Das Telefon klingelte zweimal. Ein drittes Mal.
Nach diesem kurzen Augenblick der Schwäche hatte Hunt jeden Gedanken an Katherine Merrimon niedergekämpft. Weniger als eine Minute hatte er in ihrem Garten gestanden, aber er hatte trotzdem Gewissensbisse. Tiffany war immer noch verschwunden, und deshalb richtete er seine ganze Energie auf den Fall: Welche Fragen hatten sie gestellt, was hatten sie unternommen? Was war ihnen entgangen? Was konnten sie noch tun?
Das Telefon klingelte noch einmal.
Komm schon, Yoakum.
Als Yoakum sich meldete, entschuldigte er sich sofort. »Das ist hier das reinste Irrenhaus.« Er meinte das Polizeirevier.
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