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Das letzte Kind

Das letzte Kind

Titel: Das letzte Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Hart
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waren. Nichts an diesem Jungen war »einfach nur« geworden, wie es war. Das war überall zu sehen: an dem, was er tat, an seinem Benehmen, an diesem kahlen Zimmer und sogar an seinen Büchern. Es waren keine Jungenbücher. Johnny hatte Bücher über Geschichte und alte Religionen, über Visionssuchen und die Jagdrituale der Prärieindianer. Ein Buch über Druidenlehren wog mehr als ein Kilo. Zwei handelten von der Religion der Cherokee. Es waren Bücher aus der Bibliothek; jedes hatte einen viereckigen weißen Aufkleber auf dem Rücken. Hunt nahm das Buch vom Bett und sah, dass Johnny es vierzehnmal hintereinander ausgeliehen hatte. Und nie hatte er die Leihfrist überzogen. Nicht ein einziges Mal. Er sah Johnny vor sich, wie er acht Meilen hin- und acht zurückradelte, um seinen Ausweis vorzuzeigen und an der vorgeschriebenen Stelle zu unterschreiben.
    Er warf einen Blick auf den Titel — Illustrierte Geschichte von Raven County — und sah sich dann die aufgeschlagene Seite an. Rechts war eine schwarzweiße Lithographie, die einen älteren Mann in einem ordentlich gebügelten Anzug zeigte. Ein weißlicher Bart fiel vorn über den Hemdkragen, und die Augen waren kleine harte Kiesel. Die Bildunterschrift lautete: »John Pendleton Merrimon, Wundarzt und Abolitionist, 1849.« Johnnys Vorfahr, begriff Hunt. Er sah ein bisschen aus wie Johnnys Vater, aber mit dem Jungen hatte er keine Ähnlichkeit.
    Er blätterte ein paar Seiten weiter, legte das Buch wieder aufs Bett und merkte erst, als er sich umdrehte, dass Johnnys Mutter im Flur stand. Das Hemd, das sie trug, bedeckte ihre Blöße kaum. Sie stand unsicher auf den nackten Beinen, hatte eine Hand flach an die Wand gelegt, und ihre Schultern waren schmal und rund. Ihre Augen sahen aus wie unverbundene Wunden, und ihre Stimme klang erschreckend ruhig. »Tu mir einen Gefallen, Johnny.« Sie drehte die andere Hand, sodass gelbes Licht auf die Handfläche fiel. »Sag Alyssa, ich muss mit ihr sprechen, wenn sie nach Hause kommt.«
    »Katherine ...« Unsicher brach Hunt ab. »Keine Widerworte, Johnny. Sie sollte eigentlich schon zu Hause sein.«
    Sie wandte sich ab, strich mit der Hand an der Wand entlang und schloss ihre Zimmertür hinter sich. Das Bettgestell quietschte, und Stille kräuselte sich durch das Haus.
    Bevor er ging, schaltete er die Lampen an und kontrollierte die Türen. Als er draußen war, versuchte er sich zu konzentrieren.
    Da waren immer noch Tiffany Shore und ihre am Boden zerstörten Eltern. Da war ein Riese mit einem Gesicht aus geschmolzenem Wachs, der inzwischen über alle Berge war oder vielleicht auch nicht. Da war Ken Holloway. Hunt musste nach seinem Sohn sehen, Johnny war irgendwo da draußen, und nur der Himmel wusste, was er trieb. Das alles war wie ein Strudel, eine massive Last. Aber er schob es beiseite und gestattete sich noch einen Augenblick. Mehr würde es niemals sein, und deshalb nahm er ihn selbstsüchtig in Anspruch. Er stand unter dem tintenschwarzen Himmel und dachte an Katherine Merrimon, an ihre wunden Augen und die Leere in ihr. Alles andere war nicht wichtig.

VIERZEHN
    W eniger als eine Meile entfernt stemmte sich Johnnys Feuer gegen die Nachtluft. Orangegelb kräuselten sich die Flammen, und Funken schossen in die Höhe. Er hockte daneben, barfuß und ohne Hemd. Gelbe Linien schlängelten sich durch den Schweiß auf seiner Brust, Ruß färbte sein Gesicht, weil er mit geschwärzten Fingern von der Wange bis zum Unterkiefer gestrichen hatte. Er griff nach dem blauen Rucksack, der nach Vogelblut, Schimmel und trockenem Laub roch. Die Schnallen waren rostig und steif unter seinen Fingern, und einer der Riemen war schon halb verrottet. Er öffnete den Rucksack und nahm einen Stapel zerknittertes Papier heraus. Die Blätter waren beidseitig beschrieben, aber er las die Worte nicht. Dafür war später noch Zeit. Er legte die Blätter auf den Boden und beschwerte sie mit einem Stein, so groß wie ein Wachtelei. Als Nächstes kam ein dunkler Lederriemen, an den Klapperschlangenrasseln und der Kopf einer Mokassinschlange geknotet waren. Die Rasseln hatte er einem Jungen in der Schule abgekauft. Die Mokassinschlange hatte er selbst getötet. Vier Tage hatte er im Wald verbracht und danach gesucht, und dann hatte er keine dreißig Meter vor seiner eigenen Hintertür eine gefunden, die sich auf einem Stück Blech sonnte. Das sollte so sein, hatte er gedacht: Die Schlange wollte gefunden werden. Er hatte sie mit einem

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