Das letzte Kind
siehst du ihn manchmal? Sprichst du mit ihm?«
»Niemand spricht mit ihm. Er ist ein Irrer.«
Hunt richtete sich auf, und Zorn glühte in der Höhle hinter seinen Augen. »Inwiefern ein Irrer?«
»Er redet nicht, weißt du. Und er hat diese toten Augen.« Allen rollte die Schultern. »Er ist im Arsch. Ich meine — Zwillinge, weißt du. Wie soll man über so was hinwegkommen?«
»Und Tiffany Shore?«, fragte Hunt. »Kennst du sie?«
Der Junge drehte sich zu ihm um, und sein Blick war unnachsichtig. »Es hört nie auf bei dir, was?«
»Was?«
»Dein Job.« Allens Stimme wurde schneidend. »Dein gottverdammter Scheißjob!«
»Junge —«
»Ich hab's so satt, dauernd von Alyssa und Johnny zu hören, und was für eine schreckliche Tragödie das ist. Ich hab's satt, dich mit dieser Akte zu sehen, wie du ihr Foto anstarrst und Nacht für Nacht alles von Neuem durchackerst.« Er zeigte mit dem Finger hinüber zu Hunts Arbeitszimmer, wo ein Exemplar der Akte Merrimon ständig in der verschlossenen oberen Schreibtischschublade lag. »Ich hab's satt, wie deine Augen sich vernebeln und du nie hörst, was ich sage. Ich hab's satt, um drei Uhr morgens zu hören, wie du auf und ab gehst und vor dich hin murmelst. Ich hab deine Schuldgefühle satt, das Essen aus dem Takeaway, und dass ich meine Wäsche selbst waschen muss. Mom ist wegen deiner Besessenheit gegangen.«
»Moment mal.«
»Das ist doch das richtige Wort, oder?«
»Deine Mutter hat verstanden, welche Anforderungen mein Job stellt.«
»Ich rede nicht von deinem Job. Ich rede von dem, was du jeden Abend mit nach Hause bringst. Ich rede davon, dass du völlig besessen von Johnnys Mutter bist.«
Hunt spürte, wie sein Herz schneller schlug.
»Darum ist sie gegangen.«
»Du irrst dich«, sagte Hunt.
»Sie ist gegangen, weil du von der Mom dieses Jungen besessen bist!«
Hunt trat vor und merkte, dass er die rechte Hand zur Faust geballt hatte. Sein Sohn sah es auch und hob beide Hände. Er straffte die Schultern, und Hunt begriff, dass der Junge groß genug war, um es mit ihm aufzunehmen.
»Willst du mich schlagen?« Allen wischte sich mit dem Handrücken seiner Faust über den Mundwinkel. »Na los. Tu's doch. Trau dich.«
Hunt wich zurück und lockerte die Faust. »Niemand will irgendjemanden schlagen.«
»Diese Familie ist das Einzige, was dich interessiert. Alyssa. Johnny. Diese Frau. Und jetzt ist es Tiffany Shore, und alles fängt wieder von vorn an.«
»Diese Kinder —«
»Ich weiß alles über diese Kinder! Ich höre ja nie etwas anderes! Und es wird niemals aufhören.«
»Das ist mein Job«, sagte Hunt.
»Und ich bin bloß dein Sohn.« Seine Stimme klang gedämpft, aber seine Worte waren wie eine Explosion. Sie starrten einander an, Vater und Sohn, und dann zirpte Hunts Handy in die Stille. Auf dem Display stand Yoakums Name. Hunt hob den Finger. »Ich muss rangehen.« Er klappte das Handy auf. »Ich hoffe, Sie haben einen guten Grund.«
Yoakum kam gleich zur Sache. »Wir haben den Abdruck auf Wilsons Augenlid identifiziert.«
»Hundertprozentig?«
-Ja. Und es wird noch besser.«
»Wie viel besser?«
»Sie würden's nicht glauben.«
Hunt sah auf die Uhr und drehte sich zu seinem Sohn um. Er schaute ihm in die Augen und hörte seine eigenen Worte mit Abscheu. »Ich bin in zehn Minuten da.« Er klappte das Handy zu und hob die Hand. »Allen —«
Aber sein Sohn hatte sich schon abgewandt. Er polterte die Treppe hinauf und schlug die Zimmertür hinter sich zu. Hunt starrte zur Decke hinauf, fluchte leise und verließ das Haus, während oben die Musik zu dröhnen begann und sein Sohn wieder das gleiche verkorkste Lied abspielte.
SECHZEHN
D as Polizeirevier lag in einer Nebenstraße in der Innenstadt, ein zweigeschossiger, funktionaler Ziegelbau. Hunt stürmte durch die Tür und fand Yoakum im ersten Stock über einen Stadtplan gebeugt. »Schießen Sie los«, sagte er.
»Der Abdruck ist klar identifiziert. Levi Freemantle. Dreiundvierzig Jahre. Schwarz, männlich. Eins fünfundneunzig, hundertfünfzig Kilo.«
»Verdammt. Ich dachte, der Kleine übertreibt.«
»Nein. Er ist ein Riese.«
»Wieso kommt mir der Name bekannt vor?«
»Freemantle?« Yoakum lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Höre ich heute Nacht zum ersten Mal.«
»Haben wir ein Foto?«
»Nicht von der Verkehrsbehörde. Er hat keinen Führerschein.
Er hat auch keine Kreditkarte und kein Bankkonto. Jedenfalls finde ich nichts.«
»Wilson wurde mit einem Auto von
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