Das letzte Kind
heran. »Warst du da draußen? Am Fluss?« Sein Sohn schwieg und blätterte weiter. »Hast du wieder geschwänzt? Wir haben doch darüber gesprochen.«
»Lass mich einfach in Ruhe.«
Hunt redete mit einem Fremden.
»Ich hab gesagt, du sollst mich in Ruhe lassen.«
Hunt zögerte, und sein Sohn stand auf. Die Muskeln spielten unter seiner Haut. Hunt spürte, dass sich seine Nackenhaare sträubten, weil in der Haltung des Jungen so viel nackte Herausforderung lag. Aber dieser Eindruck hielt nur ein paar Sekunden an. Hunt blinzelte einmal, dann sah er seinen Sohn, wie er noch vor nicht allzu langer Zeit gewesen war: ein schlaksiger Bengel voller Neugier und unschuldiger Begeisterung. Ein Junge, der morgens um sechs aufstand und sich Frühstück machte, der Windvögel aus Balsaholz und Packpapier baute. Hunt entspannte sich. »Ich bin unten. Wir müssen uns unterhalten; also nimm dir ein paar Minuten Zeit und überleg dir, was du mir sagen willst.«
Sein Sohn ignorierte ihn. Er ging zu seiner Anlage und schaltete sie wieder ein. Die Musik folgte Hunt bis in die Küche.
Hunt setzte sich an den Küchentisch und rief Yoakum an. »Gibt's was Neues?«
»Haben wir nicht gerade noch telefoniert?«
»Doch. Und ich will wissen, ob es seitdem etwas Neues gibt.«
»Nein. Was macht der Junge?«
Hunt griff nach einer Flasche Scotch. »Ich glaube, er möchte mich umbringen.«
»Braucht er ein Alibi? Sagen Sie ihm, er soll mich anrufen.« Hunt ließ zwei Fingerbreit in ein Glas gluckern und lehnte sich zurück. »Er braucht seine Mutter. Ich komme nicht mehr an ihn ran.« Er trank einen Schluck. »Er hätte mit ihr gehen sollen.«
»Der Junge hatte nicht die Wahl, Clyde. Sie ist weggegangen, und ich kann mich nicht entsinnen, dass sie ihn eingeladen hätte mitzukommen.«
»Ich hätte darauf bestehen können, dass darüber geredet wird«, sagte Hunt.
»Er wird schon drüber wegkommen.«
»Er hört Grunge, und er ist bereit, gegen seinen eigenen Vater handgreiflich zu werden.«
»Grunge. Wow. Das sollte in die Abendnachrichten.«
»Ha, ha.« Hunt lachte nicht.
»Bleiben Sie zu Hause«, sagte Yoakum. »Kümmern Sie sich um den Jungen.«
»Die Uhr tickt, John. Ich bin in zehn Minuten da.«
»Tun Sie das nicht noch einmal.«
»Was soll ich nicht tun?« Hunt hörte den Ärger in seiner Stimme. Yoakum hörte ihn auch. »Haben Sie nicht schon genug verloren, Clyde? Wirklich.«
»Was meinen Sie damit?«
»Herrgott noch mal, Mann. Stellen Sie zur Abwechslung Ihren eigenen Sohn an die erste Stelle.«
Hunt wollte antworten. Er wollte etwas Wütendes, Vernichtendes erwidern, aber Yoakum hatte den Hörer auf die Gabel geknallt. Hunt legte ebenfalls auf, nahm noch einen Schluck Scotch und schüttete den Rest in die Spüle. Yoakum versuchte das Richtige zu tun. Das verstand er, und deshalb senkte er den Kopf und dachte über das eigentliche Problem nach. Er war süchtig nach seinem Job, doch das war nicht alles. In der stillen, dunklen Küche konnte Hunt sich ausnahmsweise eingestehen, dass er seinen eigenen Sohn nicht besonders mochte. Er liebte ihn, natürlich, aber er mochte ihn nicht. Nicht seine Haltung, seine Überzeugungen, nicht die Entscheidungen, die er traf.
Der Junge hatte sich verändert.
Hunt spülte das Glas aus, und als er sich umdrehte, stand Allen in der Tür. Sie starrten einander an, und der Junge schaute als Erster weg. »Ich hab geschwänzt, ja. Na und?«
»Zunächst mal ist es gegen das Gesetz.«
»Kannst du das nie abstellen?« Er strich mit der Hand über die Armlehne des Stuhls. »Wieso musst du dauernd Polizist sein? Warum kannst du nicht mal ein normaler Dad sein?«
»Einem normalen Dad ist es egal, wenn sein Sohn die Schule schwänzt?«
Allen schaute zur Seite. »Du weißt, was ich meine.«
»Draußen bei der Brücke wurde ein Mann ermordet. Das weißt du. Er wurde genau da umgebracht, wo du warst.«
»Aber ein paar Stunden später.«
»Und wenn dir etwas passiert wäre? Wie soll ich es deiner Mom erklären, wenn dir etwas Schlimmes passiert?«
»Na, es ist ja nichts passiert. Also bist du aus dem Schneider.«
»Du hast Johnny Merrimon da draußen gesehen? Und Jack Cross?«
»Du weißt, dass ich sie gesehen hab. Sonst würdest du nicht fragen. So machen Cops das, oder? So verhören sie ihre Verdächtigen.«
»Abgesehen von heute — siehst du Johnny Merrimon manchmal?«
»Er geht zur Junior High. Ich bin im letzten Jahr auf der Highschool.«
»Das weiß ich«, sagte Hunt. »Aber
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