Das letzte Koenigreich
töten, Uhtred», warnte er mich. «Er kann dich mit seinen Hauern zerfleischen, es sei denn, du stichst richtig zu.»
Der Speer, das wusste ich, musste die Brust oder besser noch den Hals durchbohren. Ich wusste, dass ich keinen Eber töten konnte, aber falls einer auftauchte, musste ich es trotzdem versuchen. Ein ausgewachsener Eber kann das doppelte Gewicht eines Mannes erreichen, und ich hatte nicht genug Kraft, um solch ein Tier zurückzutreiben, aber Ragnar wollte, dass ich den ersten Stoß führte, und würde zu meiner Unterstützung in meiner Nähe bleiben. Und so kam es auch. Ich habe seitdem Hunderte von Ebern erlegt, doch diesen ersten werde ich nie vergessen, diese kleinen Augen, die unbändige Wut und Entschlossenheit, den Gestank, die aufgerichteten und schlammverspritzten Borsten, das süße Geräusch, mit dem die Speerspitze in seine Brust drang und wie ich zurückgeschleudert wurde, als hätte mich Odins achthufiges Pferd getreten. Ragnar versetzte dem Tier den Todesstoß. Es quiekte, brüllte, zuckte mit den Läufen, und die Jagdhunde kläfften. Ich sprang auf und lehnte mich mit zusammengebissenen Zähnen und meinem ganzen Gewicht auf den Speer, durch dessen Eschenschaft das letzte Aufbäumen des Tiers zitterte. Ragnar gab mir einen der beiden Stoßzähne, die er aus dem Kadaver heraus gebrochen hatte, und ich trug ihn fortan neben Thors Hammer am Halsband. Während der folgenden Tage wollte ich nichts anderes als jagen, doch es war mir streng verboten, ohne Ragnar einem Eber nachzustellen. Als sich Rorik halbwegs erholt hatte, streiften wir mit Pfeil und Bogen durch den Wald, um Rotwild zu erbeuten.
Es war während eines dieser Jagdausflüge, oben am Waldrand, gleich unterhalb des Hochmoors, auf dem noch vereinzelt Schneereste lagen, als ich beinahe selbst einem Pfeil zum Opfer gefallen wäre. Rorik und ich pirschten durchs Unterholz. Plötzlich surrte ein Pfeil dicht an meinem Kopf vorbei und blieb in einer Esche stecken. Ich schnellte herum, spannte selbst einen Pfeil in die Sehne, sah jedoch niemanden. Aber wir hörten jemanden zwischen den Bäumen weglaufen und nahmen die Verfolgung auf. Doch wer immer den Pfeil auf mich abgeschossen hatte, war schneller als wir.
«Ein Unfall», meinte Ragnar. «Er hat eine Bewegung gesehen, dich für ein Reh gehalten und geschossen. So was passiert.» Er musterte den Pfeil, den wir mitgenommen hatten. Er war aus dem Ast einer Hainbuche geschnitzt, mit Eisenspitze und Befiederung versehen, zeigte aber kein
Merkmal, das auf den Schützen hingewiesen hätte. «Ein Unfall», beschied Ragnar.
Gegen Ende des Winters zogen wir wieder nach Eoferwic, wo wir mehrere Tage damit zubrachten, Ragnars Schiffe zu reparieren. Ich lernte, Eichenstämme mit Keil und Holzhammer zu spalten und morsche Planken vom Schiffsrumpf abzureißen. Der Frühling brachte weitere Schiffe und Mannschaften. Zu den Neuankömmlingen zählte auch Halfdan, der jüngere Bruder von Ivar und Ubba, ein großer Mann mit wildem Bart und finsterem Blick. Er sprühte vor Energie, als er ans Ufer sprang, umarmte Ragnar, tätschelte mir die Schulter, gab Rorik einen Klaps hinter die Ohren, schwor, jeden Christen in England zu töten, und suchte dann seine Brüder auf. Die drei planten einen neuen Krieg und versprachen, das Land der Ostangeln auszuplündern. Als schließlich die Tage wärmer wurden, waren wir zum Aufbruch bereit.
Die Hälfte des Heeres sollte über Land ziehen, die andere Hälfte, so auch die Männer Ragnars, auf dem Wasserweg ans Ziel gelangen. Das würde meine erste richtige Reise werden. Doch bevor wir aufbrachen, bat Kjartan Ragnar um eine Unterredung. Ihn begleitete sein Sohn Sven, anstelle seines fehlenden Auges verunstaltete ein rotes Loch sein grimmiges Gesicht. Kjartan kniete vor Ragnar nieder und beugte das Haupt: «Ich würde gern mit Euch ziehen, Herr», sagte er.
Dass er Sven mitgebracht hatte, war ein Fehler, denn Ragnar, sonst großzügig, bedachte den Jungen mit einem finsteren Blick. Ich nenne Sven einen Jungen, obwohl er inzwischen ein fast erwachsener Mann war, groß, stark und mit breiter Brust. «Du würdest also gern mit mir ziehen», wiederholte Ragnar spöttisch.
«Ich flehe Euch an, Herr», sagte Kjartan, was ihn sehr viel Überwindung kosten musste, denn er war ein stolzer Mann. Doch in Eoferwic konnte er weder Kriegsbeute noch Armreife, noch Anerkennung erwarten.
«Meine Schiffe sind voll besetzt», entgegnete Ragnar kühl und wandte sich ab. Ich sah den
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