Das letzte Mahl: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
im dritten Stock und brach sich den Arm, als er im zweiten versuchte, sich abzustützen. Vor dem ersten Stock des Mietshauses in der Bidenkapsgate war die Plane sorgfältig befestigt und hielt seinen Sturz für einen Moment auf. Dann riss sie sich auch dort los, und Sebastian knallte mit der Schulter voran auf den Asphalt.
»Santa Maria«, sagte Claudio und rannte im Schlafanzug die Treppen hinunter. Immer wieder rief er: »Ein Unfall! Ein Unfall! Von meinem Gerüst ist er gefallen, dieser Einbrecher!«
Unten angelangt, hob er die Plane an.
Ein Blutfaden sickerte aus Sebastians Mundwinkel. Der Junge war bewußtlos, vielleicht tot.
»Er atmet«, schrie Claudio hysterisch einen Nachbarn an, der in einem blauen Schlafrock neben ihm stand und in der rechten Hand ein schnurloses Telefon hielt. »Er atmet. Sebastian! Wir brauchen einen Krankenwagen!«
»Ich habe schon alle Welt verständigt«, flüsterte der Nachbar. »Ist er tot?«
»Nein! Er atmet noch, sage ich doch. Er … ich hab ihn vor dem Fenster gesehen, vor meinem Fenster, und …«
Claudio zeigte wütend nach oben, als habe der Nachbar keine Ahnung, wo er wohnte. Eine Frau von Mitte Zwanzig, deren Nase und Lippen gepierct waren, beugte sich neugierig über Sebastian. Die heulenden Sirenen kamen immer näher.
»O verdammt, der ist aber blaß«, sagte die Frau beeindruckt. »Habt ihr das gesehen? Ist er abgestürzt?«
Sie legte den Kopf in den Nacken und zog die Plane weiter zurück.
»Weg«, schrie Claudio, »geh da weg!«
Ein Krankenwagen, ein Streifenwagen und zwei Feuerwehrwagen bogen fast gleichzeitig um die Ecke. Das Ende der Straße war in Blaulicht getaucht, und spätestens jetzt waren alle wach. Die Leute hingen aus den Fenstern, und schon hatten sich acht Nachtschwärmer um Sebastian versammelt. Der Junge atmete noch immer, und er war noch immer bewußtlos.
Die Polizei brauchte fünf Minuten, um sich davon zu überzeugen, daß nichts brannte, um die roten Autos wegzuschicken und die Gaffer zu verscheuchen. Nur Claudio und der Nachbar im Schlafrock durften innerhalb der Absperrung aus roten und weißen Plastikbändern stehenbleiben. Ein weiterer Streifenwagen hielt mitten auf der Straße, und ein Uniformierter von Mitte Dreißig zog Claudio ein Stück beiseite.
»Haben Sie angerufen?«
»Lebt er noch?«
Claudio machte sich aus dem festen Griff des anderen los und lief zurück zu Sebastian. Drei Männer in weißen Kitteln beugten sich über den Jungen. Der Polizist holte einen Kollegen zu Hilfe und versuchte erneut, Claudio beiseite zu nehmen.
»Lebt er noch?« fragte der und schlug wild um sich. »Lebt Sebastian noch?«
Sebastian kam zu Bewußtsein. Er öffnete die Augen, konnte aber offenbar nicht klar sehen. Er wimmerte nicht, klagte nicht; schaute sich nur überrascht um und schien nicht begreifen zu können, was die vielen Menschen von ihm wollten. Dann fiel sein Blick auf Claudio.
»Er hat mich gestoßen«, flüsterte er deutlich hörbar.
Die Sanitäter erstarrten.
»Claudio hat mich runtergestoßen.«
Die Augen schlossen sich wieder, und die Sanitäter brachten eine Nackenstütze an.
»Wohnen Sie hier?«
Der Polizist war nicht mehr sonderlich freundlich. Claudio nickte und schluckte und nickte wieder und zeigte in die Luft, als hause er im Himmel.
»Gehen wir zu Ihnen nach oben«, ordnete der Polizist an.
»Zu mir nach oben?«
»Ja. Wie heißen Sie?«
Apathisch nannte Claudio Namen und – was ziemlich überflüssig war – Adresse. Er registrierte kaum, daß der Polizist alles per Funk weitergab.
Der Krankenwagen bog in die Wessels gate ab und war gleich darauf verschwunden.
Claudio schwitzte nicht mehr. Er klapperte mit den Zähnen und zitterte am ganzen Leib.
»Ich will nicht nach oben«, jammerte er. »Wir können hier reden.«
Das wollten die Polizisten nicht.
»Hier?«
Der ältere Beamte zeigte auf die Doppelfenster in Claudios Wohnzimmer. Er war völlig außer Atem, nachdem er den Italiener mehr oder weniger alle Treppen hochgeschleppt hatte. Ein Kollege stand in der Türöffnung, um einen eventuellen Fluchtversuch zu verhindern. Claudio Gagliostro schien sich dafür aber auch nicht zu eignen. Er saß apathisch auf einem Holzstuhl, gewandet in einen quergestreiften Schlafanzug, der ihn in dieser Situation wie einen Knastbruder aussehen ließ.
»Mhm. Ja.«
»Was ist passiert«
Claudio gab keine Antwort.
»Ha-lloooo!«
»Ich habe geschlafen.« Claudio zupfte an seinem Flanellschlafanzug, wie zum Beweis
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