Das letzte Mahl: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
aus. »Vilde.«
»Wie bitte?«
»Sie haben gesagt, der Mann habe sich sterilisieren lassen. Obwohl er eine junge, fruchtbare Frau heiraten wollte.«
»Ja, aber ich begreife nicht, was das …«
»Das ist auch gar nicht nötig. Tausend Dank für Ihren Anruf. Ich melde mich bald wieder. Ziemlich bald, sogar.«
Er legte das Telefon auf den Wohnzimmertisch und schnappte sich seine Tochter. Sie war naß und stank nach Pipi, Lakritze und altem Brei. Als er sie in die Luft warf und wieder auffing, kreischte sie vor Vergnügen.
»Dada«, sagte Jenny.
»Dada und ganz bestimmt von hier bis Heiligabend«, sagte Billy T. und beschloß, Hanne nicht anzurufen.
48
»Papa! Fang mich!«
Der Junge mochte an die sechs Jahre alt sein. Er hing in den Kniekehlen an einem Ast, der haarscharf zu schwach war für sein Gewicht. Ein mittelgroßer Mann mit roter Windjacke und altmodischer Brille schnappte den Jungen und warf ihn sich über die Schulter. Ein kleineres Kind in einem grünen Steppanzug klammerte sich an das Bein des Mannes und wollte auch auf den Arm. Zehn Meter weiter auf dem asphaltierten Weg stand eine Frau mit einer leeren Kinderkarre und sprach in ihr Mobiltelefon.
Der Akerselv floß winterlich kalt unter der Bentsebrücke hindurch und schleppte einen kalten grauen Nebel mit, der sich über die Ebene unten bei der Kirche von Sagene ausbreitete. Kaum ein Mensch war in der Gegend unterwegs. Es war kurz nach elf Uhr morgens am Sonntag, dem 19. Dezember, und Hanne blieb stehen.
»Shit «, sagte sie gedämpft.
»What?«
Es war ihr verlockend erschienen, mit dem Taxi zum Maridalsvann zu fahren und am Fluß entlang nach Vaterland zu wandern. Sie würden bei frischem Tempo eine Stunde brauchen, und anschließend konnten sie in der Stadt zu Mittag essen. Mit der Nacht abschließen, hatte Hanne gedacht. Zumindest mit dem letzten Teil derselben.
Als Nefis gegen vier von der Toilette gekommen war und nüchtern mitgeteilt hatte, daß sich hinter der unverschlossenen Tür soeben eine alte Frau einen Schuß setze, war Hanne in Tränen ausgebrochen. Dann hatte sie losgeschrien. Harrymarry hatte sich mit verschleiertem Blick die Ohren zugehalten und selig gelächelt.
Als Hanne Harrymarry für unbestimmte Zeit bei sich aufgenommen hatte, war sie davon ausgegangen, daß ihr Gast sie ausrauben würde. Seltsamerweise war bisher nichts verschwunden. Harrymarry war sehr großzügig, wenn es um Leihgaben ging, aber sie brachte alles zurück. Das einzig Wichtige für Hanne war, daß Harrymarry sich an das Verbot von Drogen in der Wohnung hielt.
»Ich bin bei der Polizei. Du darfst hier im Haus nichts aufbewahren oder benutzen. Okay?«
Harrymarry hatte genickt, ihr großes Ehrenwort gegeben und allerlei heilige Eide gemurmelt, als die Grundregel während der drei ersten Tage immer aufs neue wiederholt worden war. Natürlich hatte sie nicht Wort gehalten. Das hatte Hanne in der vergangenen Nacht entdecken müssen. Harrymarry hatte sich die Ohren zugehalten. Alles wäre gutgegangen, hatte sie verkündet, wenn dieses türkische Frauenzimmer nicht andere Klogewohnheiten hätte als Hanne, und woher zum Teufel hätte Harrymarry das wissen sollen?
Nefis hatte die Sache gelassen aufgenommen. Sie hatte verhalten gelächelt und Hannes hingestotterte Erklärung, warum Harrymarry sich in der Wohnung aufführte wie zu Hause, mit einem besorgten Stirnrunzeln akzeptiert.
Hanne hatte Harrymarry mitsamt ihren wenigen Habseligkeiten vor die Tür gesetzt. Sie hatte ihr zwar nicht den Schlüssel abgenommen, aber diese vorübergehende Verbannung markierte immerhin eine Grenze. Danach hatte sie die Wohnung auf den Kopf gestellt auf der Suche nach Dingen, die dort nicht sein durften. Im Spültank der Toilette hatte sie zwei in Plastikfolie gewickelte Tagesrationen gefunden, hinter dem Bücherregal im Gästezimmer vier Spritzen. Sie hatte das Heroin ins Klo geworfen und mit Chlor nachgespült. Die Spritzen hatte sie im Medizinschränkchen eingeschlossen. Danach hatten Nefis und sie reichlich früh gefrühstückt. Der Spaziergang sollte ihnen guttun.
»Shit«, wiederholte Hanne.
Die vierköpfige Familie ließ sich nicht mehr umgehen. Es waren Håkon Sand, Karen Borg und die Kinder, und Hanne hatte sie als erste gesehen. Für einen Moment spielte sie mit dem Gedanken, Nefis zum Fluß hinunterzuziehen. Verzweifelt hielt sie Ausschau nach etwas, das einen Abstecher über den verschlammten Rasen rechtfertigen würde. Aber das einzige, was sie entdecken
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