Das letzte Mahl: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
Verteidiger, Anwalt Osvald Becker, auf Annmari Skar zusteuerte, machte die Polizeijuristin sich eifrig an den dicken Ordnern mit Unterlagen zu schaffen, die zwischen ihr und Billy T. aufgestapelt waren.
»Frau Anklagevertreterin«, sagte Anwalt Becker laut und lächelte ins Blitzlichtgewitter hinein. »Wann ist diese Tussi Gruer Helmersen auf freien Fuß gesetzt worden?«
Die Stimme des Anwalts war auffällig hoch. Osvald Becker piepste; er war wegen seiner unangenehm schrillen Stimme geradezu berüchtigt. Sie bildete einen seltsamen Kontrast zur fülligen Erscheinung des Mannes.
Annmari Skar versuchte ihren Blick auf einen neutralen Punkt zu richten. Sie fand einen Fleck auf Beckers dunkler Jacke und antwortete mit ausdrucksloser Stimme: »Gestern. Um siebzehn Uhr dreißig. Gegen sie besteht kein Verdacht mehr.«
Anwalt Becker hob die Brauen und wandte sein Gesicht halbwegs den eifrig mitschreibenden Journalisten und den Fotografen zu, die aus Mangel an anwesenden Angeklagten ihre gesamten Filmvorräte an dieses ziemlich uninteressante Motiv verschschwendeten.
»Auf freien Fuß gesetzt? Sieh mal einer an. Ei der Daus.«
Sein Lachen war ebenso enervierend wie seine Stimme. Er legte vertraulich eine Hand auf die Schranke und fuhr sich mit der anderen über den Kopf.
»Gegen sie besteht also kein Verdacht mehr. Und ich hatte geglaubt, die Polizei amüsierte sich in diesem Fall damit, so viele Personen festzunehmen, wie überhaupt nur möglich. Komisch, daß heute nur zwei vor Gericht stehen. Komisch.«
Annmari Skar hatte diesen Mann noch nie leiden können. Im stillen wünschte sie Claudio Gagliostro einen Anwalt, dem es nicht ganz so wichtig war, für die Zeitungen zu posieren. Der Angeklagte Nummer zwei hatte sehr viel mehr Glück gehabt. Anwalt Ola Johan Bøe fungierte schon seit Jahren beim Obersten Gericht als Verteidiger und behielt grundsätzlich einen sachlichen Tonfall bei. Der Mann war von sanftem Wesen, doch niemand konnte den hellwachen Ausdruck seiner kleinen, fast starrenden Augen übersehen.
Endlich befanden sich im Saal nur noch der Protokollführer, die beiden Verteidiger, Polizeijuristin Skar, Billy T. und ein Gerichtsdiener, der sich die Zeit damit vertrieb, neues Wasser in die Plastikbecher zu geben. Die Luft war stickig und verbraucht, obwohl die Sitzung erst eine knappe halbe Stunde gedauert hatte. Der Saal hatte keine Fenster. Annmari Skar verspürte einen ersten Anflug von Kopfschmerzen. Richter Lund kehrte zurück und bedeutete allen, sie sollten einfach sitzen bleiben, ehe er energisch hinter dem Richtertisch Platz nahm, seine Hemdsärmel aufkrempelte und die Formalitäten hinter sich brachte.
»In diesem Fall geht es«, begann Becker, der aufgestanden war, ohne um das Wort gebeten zu haben, »um eine Ermittlung, wie ich sie während meiner ganzen Karriere, und ich betone: während meiner ganzen Karriere, noch nicht erlebt habe.« Er hob dramatisch die Hand und legte sie auf sein Herz, wie um den Wahrheitsgehalt seiner Aussage zu beschwören. »Ich sehe allen Grund, das Gericht schon jetzt darauf aufmerksam zu machen, daß Anlaß besteht, deutliche Kritik gegen die Polizei zu richten. Deutliche Kritik. Ich darf mir erlauben …«
Richter Lund fiel ihm ins Wort.
»Anwalt Becker. Ich darf mir erlauben, Sie jetzt schon zu warnen …« Er trommelte mit den Fingern der linken Hand auf dem Tisch. »Keine Festreden, bitte. Dieses Gericht ist über Ihre lange Karriere informiert. Sie haben bei fast jeder Verhandlung darauf verwiesen, die der Unterzeichnete miterleben durfte. Ich vermute indessen, daß auch Sie einmal jung waren …«
Annmari tauschte einen Blick mit Anwalt Bøe. Sie hätte schwören können, daß der um einiges ältere Jurist lächelte.
»… weshalb meine Vorgänger sich vielleicht keine Auslassungen über die Dauer Ihrer Karriere als selbständiges – und wenn ich mir das erlauben darf: ziemlich irrelevantes – Argument zum Vorteil Ihrer Mandanten anhören mußten. Ich habe mir übrigens sagen lassen, daß Sie noch keine Vierzig sind.«
Anwalt Bøes Lippen wurden noch immer von einem kaum sichtbaren Lächeln umspielt. Aus Loyalität seinem unseligen Kollegen gegenüber bat er dennoch um Verständnis für die Tatsache, daß die Verteidiger die Arbeit der Polizei kritisch beleuchten wollten. Richter Lund knurrte und schaute Annmari an.
»Wo schon davon die Rede ist, Polizeijuristin Skar …« Er kniff die Augen zusammen, und seine Miene bekam etwas
Weitere Kostenlose Bücher