Das letzte Mahl: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
verdächtigt?«
Er sprach leise. Mit seinen leichtgeweiteten Augen hinter der Goldrandbrille wirkte er immer etwas überrascht. Jetzt sah er erstaunter aus denn je.
Richter Lund schaute Annmari an.
»Da kann ich Anwalt Bøe durchaus zustimmen. Mir kommt das ebenfalls seltsam vor. Sie müssen entweder erklären, was Sie durch diese Fragen zu erreichen hoffen, oder sich auf das beschränken, worauf dieses Haftbegehren sich wirklich bezieht. Wenn Sie glauben, etwas Neues zu dem Fall beitragen zu können, dann muß die Polizei das außerhalb meines Saales untersuchen. Hier vor Gericht werden keine Ermittlungen angestellt.«
Er starrte resigniert auf seine Armbanduhr. Es war schon halb sieben.
Annmari war wütend. Es war ein Unding, mitten in der Befragung eines Angeklagten unterbrochen zu werden, und sie hatte nicht damit gerechnet. Nicht bei Anwalt Bøe.
»Sicher. Ich werde alles erklären. Aber ich möchte doch betonen, daß dies ein sehr ernster Fall ist«, sagte sie wütend. »Wenn Gericht und Verteidigung nicht begreifen …«
Das brachte ihr eine mahnende Geste vom Richtertisch her ein. Richter Lund mochte sich die Unterstellung, er könne etwas nicht begreifen, offenbar nicht gefallen lassen. Schon gar nicht von einer dreißig Jahre jüngeren Anklagevertreterin.
Annmari holte tief Luft und sagte: »Sindre Sand wird des versuchten Mordes angeklagt. Nach Ansicht der Polizei hat er Brede Ziegler erhebliche Mengen Gift in Form von Paracetamol zugeführt. Diese Vergiftung hätte mit großer Sicherheit den Tod des Opfers zur Folge gehabt. Wir befinden uns in der besonderen Situation, daß das Opfer erstochen wurde, ehe es …«
»Ja, das ist mir schon klar.« Richter Lund kratzte sich am Kopf. »Was mir dagegen nicht klar ist, ist, warum Sie auf Leben und Tod die Frage stellen wollen, wo dieser Angeklagte …« Er zeigte auf Sindre Sand. »… sich aufgehalten hat, während Ziegler von einer anderen Person umgebracht wurde? Sie meinen doch wohl nicht im Ernst, daß ich Gagliostro in Untersuchungshaft stecken lasse, wenn Sie zugleich der Ansicht sind, daß Sand den Mann ermordet hat?«
»Die Theorie der Anklagebehörden«, hob Annmari an – jetzt redete sie so langsam, daß es einfach als Provokation aufgefaßt werden mußte – »baut auf einer Kette von Indizien auf. Ich möchte durch meine Befragung nachweisen, daß der Angeklagte Sand der Polizei konsequent unrichtige Mitteilungen gemacht hat. Bis auf weiteres will ich also klarstellen, daß dieser Mann lügt!«
Sie schlug leicht mit der flachen Hand auf den Tisch und sah Richter Lund an wie ein widerspenstiges Kind, das einfach nicht begreifen will. Der Richter hob fast unmerklich die Hand zu einer weiteren Warnung.
»Was die Anklage des versuchten Mordes angeht«, fuhr sie fort, ohne den Richter anzusehen, »so gründet sie sich zunächst darauf, daß der Angeklagte ein starkes Motiv gehabt hätte. Das hat er zugegeben. Vom Standpunkt des Angeklagten sieht es so aus, daß Brede Ziegler ihm ein Vermögen, die Freundin und möglicherweise auch etliche Karrieremöglichkeiten genommen hat. Des weiteren hat Sand gelogen, was seinen Kontakt zu Vilde Veierland Ziegler angeht. Wir können beweisen, daß er Vilde während der letzten Wochen mehrere Male gesehen hat und daß er außerdem …« Eifrig griff sie nach dem Papier, das Billy T. herausgesucht hatte. »… konsequent die einfache Tatsache leugnet, daß er große Teile des Abends und der Nacht vom vierten auf den fünften Dezember mit Brede Ziegler verbracht hat. Den Zeitraum also, in dem Brede Ziegler das Gift zugeführt wurde, an dem er später gestorben wäre.«
Richter Lund saß da und rührte sich nicht. Annmari hatte mehr geliefert als nur eine Darstellung. Sie hatte längst mit ihrem Plädoyer begonnen. Der Richter schien ihr das durchgehen zu lassen.
»Wenn wir all diese Umstände zusammenfassen«, fügte sie hinzu, jetzt viel schneller, »dann lassen sie sich nicht als Zufälle abtun. Sie bilden ein Muster, in dem es eine, und nur eine Person gibt, die Motiv und Möglichkeit hatte, den Verstorbenen zu vergiften.« Sie reichte die Unterlagen an Billy T. weiter und lehnte sich zurück. Dann strich sie sich die Haare aus der Stirn und fragte: »Darf ich jetzt meine Fragen stellen?«
Anwalt Bøe erhob sich, ehe der Richter antworten konnte.
»Wenn es gestattet ist«, sagte er, »würde ich gern einige Kommentare zu den eben erfolgten Darlegungen der Anklage machen. Da das Gericht meiner
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