Das letzte Mahl: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
verehrten Widersacherin so wohlwollend eine von den Regeln abweichende Vorgehensweise erlaubt hat, gehe ich davon aus, daß auch ich die Aufmerksamkeit des Gerichtes für einige Minuten beanspruchen kann.« Er lächelte kurz zum Richtertisch hinüber, hob dann ein Papier in Hüfthöhe und redete weiter. »Die Unterlagen der Ermittlungen zeigen deutlich, daß Brede Ziegler einen weiten Bekanntenkreis, aber wenige oder gar keine Freunde hatte. Er war ein …« Der Anwalt fuhr sich behutsam über den Bart und schien nicht so recht zu wissen, wie er sich ausdrücken sollte. »… ein ungeliebter Mann«, sagte er endlich. »Zudem führte er eine gelinde gesagt seltsame Ehe. In meinen Augen läßt sich durchaus nicht ausschließen, daß das Mordopfer auch ein Selbstmordkandidat war. Er kann die Überdosis Paracetamol also ganz bewußt genommen haben.«
Annmari öffnete den Mund zu einem Widerspruch. Ein Blick des Richters sorgte dafür, daß sie ihn wieder schloß.
»Die Anklage mißt der Tatsache, daß mein Mandant gelogen hat, sehr große Bedeutung bei«, fuhr Bøe fort. »Das ist verständlich, auch wenn die Vertreterinnen der Polizei inzwischen erkannt haben sollten, daß Leute, die lügen, deshalb noch längst keine Verbrecher sein müssen. Wir Menschen lügen nämlich oft. Was natürlich nicht gut ist, aber wir sind nun einmal so. Mein Mandant hat zugegeben, daß er in bezug auf sein Treffen mit Brede Ziegler am fraglichen Samstagabend nicht die Wahrheit gesagt hat. Er hatte ganz einfach Angst. Was naiv und dumm war, da sind wir sicher alle einer Meinung. Aber um meine Ansicht zu verdeutlichen, möchte ich auf Dokument 324 verweisen.«
Das Rascheln von Papieren war im ganzen Saal zu hören.
»Es geht um diese Frau Helmersen. Bei ihrer Vernehmung am gestrigen Montag hat sie ausgesagt, daß sie sich zum Zeitpunkt des Mordes in der Nähe des Tatorts aufhielt. Genauere von der Polizei durchgeführte Untersuchungen haben ergeben, daß sie glatt gelogen hat. Eine Nachbarin ist an ebenjenem Abend mehrere Male mit dieser Dame aneinandergeraten, weil ihre Musik …«
Er hob den obersten Bogen und ließ seinen Finger über die Seite wandern.
»›Im Weißen Rößl am Wolfgangsee‹. Da haben wir’s. Die Zeugin hat im aktuellen Zeitraum viermal bei Frau Helmersen geklingelt, weil die Musik so laut war, daß die Zeugin in ihrer Wohnung jedes Wort verstehen konnte. Was natürlich eine Belastung ist. Frau Helmersen hat also gelogen. Aber niemand behauptet deshalb, sie habe Ziegler umgebracht.«
Anwalt Becker sprang auf, als sein Kollege sich setzte.
»Herr Richter, Herr Richter, ich bitte um das Wort!«
»Ich habe eigentlich keine Lust, es Ihnen zu erteilen, wenn ich ehrlich sein soll. Es geht hier nicht um Ihren Mandanten.«
»Aber es ist wichtig, Herr Richter. Hier zieht doch langsam ein Skandal herauf. Ein Skandal, von dem auch mein Mandant betroffen ist. Das muß einfach klar gesagt sein. Die Polizei schlägt doch ziellos um sich! Ich halte jetzt die Frage für angebracht, was eigentlich mit Vilde Veierland Ziegler ist. Der Angeklagte hat in bezug auf sie angeblich gelogen. Warum ist sie nicht hier? Die junge Dame erbt schließlich Zieglers gesamtes Vermögen und hat damit das beste Motiv von allen!«
»Da muß ich Anwalt Becker zustimmen«, sagte Richter Lund langsam. »Es wäre interessant, mehr über diese Witwe zu erfahren. Liegen Protokolle neuerer Vernehmungen vor? In denen sie eventuell die Behauptung des Angeklagten entkräftet, er habe sie seit langer Zeit nicht mehr gesehen?«
Über Vilde Veierlands Zusammenbruch existierte noch kein Protokoll. Dieses Versäumnis aber ließ sich möglicherweise entschuldigen.
»Sie ist … nicht vernehmungsfähig.«
Annmari räusperte sich und zuckte fast unmerklich mit den Schultern. Billy T. wußte nicht, ob es sich um eine Geste des Bedauerns handelte oder ob sie versuchte, die Sache herunterzuspielen.
»Vilde Veierland Ziegler ist zufällig bei einer Verkehrskontrolle festgenommen worden. Gestern morgen. Sie war in stark berauschtem Zustand gefahren. Drogen. Sie wurde in Gewahrsam genommen, wo ein Arzt ihr eine Blutprobe abnehmen sollte.«
Billy T. fummelte an seinem Schlips herum und starrte die Tischplatte an. Er hatte am Vortag vier wertvolle Arbeitsstunden mit der Suche nach Vilde vergeudet. Die derweil längst im Arrest saß. Er hatte eine wahnsinnige Wut angestaut, die das Haupt der erstbesten Person treffen sollte, die ihm nach Entdeckung dieses Patzers
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