Das letzte Mahl: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
versuchte zu essen, aber die Nudeln rutschten immer wieder von seiner Gabel. Er wollte den Löffel nehmen, aber es war, als gehörten ihm seine Hände nicht mehr. Er blieb sitzen und starrte seinen praktisch unberührten Teller an.
»Das war Karianne«, sagte Severin resigniert und verstaute das Telefon wieder in seiner braunen Schultertasche. »Sebastian Kvie ist vor einer Dreiviertelstunde gestorben. Armer Teufel.«
Es waren noch genau zwei Tage bis zum Heiligen Abend. Billy T. konnte nur noch denken, daß die Werkzeugkästen für die Jungen ein großer, großer Fehlgriff waren.
62
Als die Frau die Tür öffnete, sah sie aus, als habe sie schon gewartet. Genauer gesagt, als habe sie auf sie gewartet. Die Wohnungseinrichtung wirkte zwar wie 1974 unter Denkmalschutz gestellt, aber alles war sauber und aufgeräumt. Eine Vertiefung in einem der Sessel verriet, daß hier eben noch jemand gesessen hatte, doch der Fernseher lief nicht. Es war ganz still in der Wohnung, und es lagen weder Bücher noch Zeitschriften herum. Sie schien begriffen zu haben, daß sie unterwegs waren, und schlicht auf sie gewartet haben. Als Hanne Wilhelmsen ihren Dienstausweis zeigte, nickte sie kurz und wischte sich Staub von der Hose.
»Ich wollte das Richtige tun, aber es war das Falsche.«
Das war das erste, was sie sagte. Sie sagte nicht hallo. Sie bat sie auch nicht herein. Sie ging ins Wohnzimmer und schien es für selbstverständlich zu halten, daß sie ihr folgen würden. Das Sofa war selbst gezimmert und mit geblümtem Marimekko-Stoff überzogen. Die Blütenblätter, einst lila, waren zu einem hellen Fliederton verschossen, und an mehreren Stellen quoll das Polster hervor. Eine riesige Yuccapalme in der Ecke zur Straße diente als Weihnachtsbaum, geschmückt mit selbst geflochtenen Zierkörbchen, zwei blauen Glaskugeln mit Schneegestöber und einer Kette von Lichtern, die nicht brannten. Angrenzend ans Wohnzimmer konnte Silje Sørensen eine Küche mit orangefarbenen Wänden und grünen Geschirrtüchern ahnen.
»Wenn Sie nicht zu mir gekommen wären, hätte ich Sie aufgesucht«, sagte die Frau ruhig. »Daniel gegenüber ist es nicht fair, wie sich die Dinge entwickelt haben.«
Hannes Blick sorgte dafür, daß Silje ihre Frage für sich behielt. Sie ließ sich auf dem Sofa zurücksinken und spielte an ihrem Diamantring herum.
Thale Åsmundsen wirkte unberührt von der Stille, die jetzt eintrat. Ihr Gesicht war leer. Sie schien ihre Züge im Theater gelassen zu haben und für den Privatgebrauch über mehrere Mienen zu verfügen. Zusammengekrümmt und mit angezogenen Beinen saß sie in ihrem Sessel. Ihre Haare waren glatt und halblang, von einer Frisur konnte jedoch keine Rede sein. Sie nippte an ihrem Tee. Erst nach langer Zeit stellte sie die Tasse wieder auf den Tisch.
»Es fing damit an, daß ich Freddy kennenlernte«, sagte sie ruhig. »Sie wissen natürlich, daß Brede Ziegler eigentlich so hieß. Freddy Johansen. Im Grunde mochte ich ihn nicht.«
Zum ersten Mal war in dem leeren Gesicht eine Art Ausdruck zu erkennen, etwas, das Hanne als Selbstironie deutete.
»Aber ich war erst achtzehn. Das Ganze war eine Art Protest. Gegen meinen Vater und auch gegen Idun. Sie ist älter als ich und hatte schon ihr Staatsexamen hinter sich. Mein Vater wollte, daß ich Jura studiere. Aber ich habe mich an der Theaterschule beworben. Und mich mit einem … Nichtakademiker zusammengetan. Das hat zu Hause in Heggeli zu einem netten kleinen Skandal geführt. Was mir ja nur recht war.«
Die Ironie war verschwunden. Trotzdem stutzte Hanne. Die Frau in der grünen Cordhose schien einer alten Trauer nachzuhängen. Dann aber zuckte sie kurz mit den Schultern und sagte: »So war das. Eigentlich war, als ich schwanger wurde, schon längst wieder Schluß zwischen uns. Ich hatte das nur nicht begriffen. Freddy war gelinde gesagt …« Ein kurzes Lächeln huschte über ihren Mund, und für einen Moment verbarg sie ihr Gesicht in ihrer Tasse. »… gleichgültig, könnten wir sagen. Egal. Mir war das schnurz. Ich wollte das Kind. Das letzte Mal bin ich Brede siebenundsiebzig begegnet, auf der Straße. Ich war hochschwanger. Er sagte hallo und ging weiter. Ohne zu fragen. Er hat mich nie angerufen. Wollte nicht wissen, ob er Vater eines Sohnes oder einer Tochter sei. Ich habe ihm geschrieben, der Ordnung halber. Und von der Geburt des Jungen erzählt. Und daß ich ihn Daniel genannt hatte. Er hat nie geantwortet. Mir war das recht. Freddy
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