Das letzte Mahl: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
hielt sie dem Wachmann hin. Der zögerte kurz, dann machte er drei Schritte ins Zimmer hinein und riß den Ausweis an sich.
»Stimmt.« Er lächelte kleinlaut. »Er ist von der Polizei. Ihr hättet den Alarm ausschalten müssen.«
»Den Alarm? Ich hab keinen Mucks gehört.«
Billy T. zog die Gummihandschuhe an und faltete den bemerkenswerten Brief zusammen, um ihn in eine Tüte zu stecken und in seiner Tasche verschwinden zu lassen.
»Stiller Alarm. Man soll nichts hören. Bleibt ihr noch lange?«
»Nein«, sagte Billy T. sauer. »Wir gehen jetzt. Dann könnt ihr euch um den Drecksalarm kümmern. Severin, gib mir das Band aus dem Anrufbeantworter.«
Der Wagen stand noch an Ort und Stelle. Jemand hatte einen Strafzettel unter den Scheibenwischer geschoben. Weiter oben in der Straße standen zwei Verkehrspolizisten mit Block und Bleistift vor einem Lastwagen, der mit den Vorderrädern auf den Zebrastreifen gefahren war.
»He«, schrie Billy T. »Du da oben! Hast du den Polizeiausweis nicht gesehen, oder was?«
»Vergiß es«, sagte Severin Heger und klopfte ungeduldig auf das Dach des Wagens. »Wir dürfen hier eben nicht stehen.«
Die anderen hatten nur kurz aufgeschaut und widmeten sich bereits wieder dem Ausfüllen von Strafmandaten. Billy T. fluchte von dem Moment an, als sie das Auto aufschlossen, bis der Motor ansprang.
»Ich hasse Uniformierte«, fauchte er. »Ob das nun Trottel vom Wachdienst sind oder …«
Er öffnete wütend das Fenster auf Severins Seite, als sie an den Verkehrspolizisten vorbeifuhren, und heulte: »… oder die Arschlöcher von der Verkehrskontrolle.«
Nur mit Mühe und Not konnte er den Zusammenstoß mit einem zitronengelben Polo vermeiden.
»Hat Brede Ziegler irgendwann Anzeige wegen Bedrohung erstattet?« fragte Severin Heger und wischte an der beschlagenen Windschutzscheibe herum.
»Parkuhrbanausen!« fauchte Billy T.
9
Daniel bereute, die Winterstiefel nicht angezogen zu haben. Es war Dienstag, der 7. Dezember, und die Temperatur war gegen Abend wieder gefallen. Die letzten Tage hatten abwechselnd Schnee, Regen und Sonne geboten. Jetzt legte sich der Schneematsch eiskalt um seine guten Schuhe, und er schlug die Füße gegeneinander, um sie zu wärmen.
Die Zeit wurde langsam knapp.
Der IKEA-Bus kam. Die Leute, die neben ihm an der Haltestelle vor der Juristischen Fakultät gewartet hatten, eilten ins Warme, und Daniel schaute auf die Uhr.
Sie ärgerte sich schrecklich, wenn er zu spät kam. Und das tat sie, seit er alt genug war, um ins Theater zu gehen. Thale bestand darauf, daß er immer die dritte Vorstellung nach der Premiere besuchte. Dann war noch das zu spüren, was die Mutter »kreative Anspannung« nannte. Zugleich hatte die Nervosität der Premiere sich gelegt, und Fehler, die erst bei der Begegnung mit dem Publikum offenbar geworden waren, hatten weggeschliffen werden können.
Es war eine Pflicht, Thales Vorstellung zu besuchen.
Eine Pflicht derselben Kategorie wie die, daß er nach der Schule die Spülmaschine leeren und jeden Freitag den Boden putzen mußte. Mit dem Treppenputzen war Schluß, seit er zwei Jahre zuvor in eine Studentenbude gezogen war. Die obligatorischen Theaterbesuche dagegen würden ihm erhalten bleiben, solange die Mutter aufrecht auf einer Bühne stehen konnte. Nach der Vorstellung Spiegelei und Kakao am Küchentisch waren ebenfalls so selbstverständlich, daß er nie einen Widerspruch gewagt hatte. Nicht einmal damals, als seine Freundin am Tag der dritten Vorstellung zwanzig geworden war.
»Sie kann ja mitkommen«, hatte Thale ruhig gesagt. »Du wirst jedenfalls dasein.«
Früher hatte er geglaubt, seine Mutter tue das ihm zuliebe. Das behauptete sie schließlich immer. Das Theater sei gut für ihn, meinte sie. Erst vor kurzer Zeit war ihm aufgegangen, daß sie auf diese Weise im Grunde ihr eigenes Bedürfnis nach einem Gesprächspartner zu befriedigen suchte.
Thale hatte nach den Vorstellungen immer sehr viel zu sagen. Sie ging mit den Rollen und den Personen im Stück um wie mit engen Freunden. Ansonsten redete sie nur selten über andere. Sie sagte überhaupt nur wenig, außer in den Nächten, in denen sie Kakao mit Haut tranken und Eier und Tomaten und Toast aßen, bis er nicht mehr konnte und schlafen mußte.
Daniel zog sich den Mantelkragen dichter um die Ohren, als er den feuchten Schnee im Nacken spürte. Er kam sich kindisch vor, weil er auf einen Kommentar von ihr wartete. Zugleich empfand er eine Art wachsenden
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