Das letzte Mahl: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
Haben alles aufgegessen, zusammen mit den Fernsehleuten. Den Kameraleuten und dem Moderator und so. Gegen eins waren wir erst fertig. Und dann bin ich noch mit drei Leuten losgezogen. Ich war bis vier Uhr morgens mit ihnen unterwegs. Einer hat bei mir übernachtet, er wohnt und arbeitet in Bergen. Petter Lien, falls Sie das überprüfen wollen.
PROTOKOLLANT:
Wir werden sehen.
ZEUGE:
Mir kann nichts passieren.
PROTOKOLLANT:
Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?
ZEUGE:
Brede, meinen Sie?
PROTOKOLLANT:
Ja. Haben Sie ihn in letzter Zeit überhaupt gesehen?
ZEUGE:
Tja. Kommt drauf an, was Sie unter »letzter Zeit« verstehen. Ich weiß nicht mehr genau, wann ich ihn gesehen habe. Ist schon länger her, glaube ich.
PROTOKOLLANT:
Glauben Sie? Sie wissen es nicht mehr genau? (Telefon klingelt, undeutliche Rede, am Telefon?) Tut mir leid. Ich hatte ja Bescheid gesagt, aber es ist dringend. Könnten Sie wohl … in zwei Stunden noch einmal kommen?
ZEUGE:
Eigentlich nicht. Ich bin verdammt müde und muß heute abend arbeiten. Sollte wohl eher eine Runde schlafen. War hart genug, mich an einem Samstag schon so früh herzuschleppen.
PROTOKOLLANT:
Dann sehen wir uns (Pause) um zwei, zum Beispiel?
ZEUGE:
(langes Gähnen? Seufzen?) Na gut. Um zwei.
Anmerkung des Protokollanten: Die Vernehmung wurde aufgrund dringender anderer Aufgaben unterbrochen. Der Zeuge war aussagebereit, aber deutlich übermüdet. Er wirkte sehr aufgewühlt, als er über den Toten sprach. Einmal – als von dem Geld die Rede war, um das er seiner Meinung nach betrogen worden ist – hatte er Tränen in den Augen. Die Vernehmung wird um zwei Uhr fortgesetzt.
17
Die paar Strahlen Wintersonne, die plötzlich durch die schwere Wolkendecke brachen, halfen wenig. Im Zimmer war es noch immer dunkel. Eine einsame 25-Watt-Birne hing mitten im Raum unter der Decke. Thale stieg über die Pappkartons, die auf dem Boden lagen, und setzte sich aufs Bett. Das ächzte laut und unheilverheißend.
»Ich begreife ja nicht, warum du nicht wieder nach Hause ziehen willst. Dieses Loch ist doch gelinde gesagt unerträglich. Vierter Stock ohne Fahrstuhl, fast keine Möbel. Und es stinkt nach …« Sie schnupperte ein wenig. »Schimmel. Diese Wohnung ist doch sicher das pure Gesundheitsrisiko.«
»Thale, hör zu. Mit dem Mietvertrag im Bogstadvei hat es Ärger gegeben und …«
»Da brauchte ich mir wenigstens keine Sorgen um dich zu machen. Die Wohnung war hell und schön und sauber. Warum du dich mit zweiundzwanzig Jahren mit einer Vermieterin abfinden willst, die Damenbesuch und Toilettenbenutzung nach neun Uhr abends verbietet, das will mir einfach nicht in den Kopf, Daniel. Du bist zu Hause jederzeit willkommen. Jederzeit. Billiger wäre das übrigens auch. Diese elende Kammer ist so … du bist immer so unpraktisch, Daniel. Eigentlich warst du das immer schon.«
»Das Zimmer ist billig. Und es ist praktisch, nicht soviel Geld fürs Wohnen auszugeben.«
Er lächelte und fügte hinzu: »Außerdem kann man nicht einfach wieder in sein Kinderzimmer ziehen, wenn man erst mal von zu Hause weg ist.«
Thale stieg mit den Schuhen an den Füßen aufs Bett, um das Bild einer Zigeunerin zu entfernen, die verführerisch über den Rand ihres Tambourins lächelte.
»Das kannst du einfach nicht hängen lassen.«
Sie nahm das Bild vom Haken, ohne auf die Verärgerung ihres Sohnes zu achten. Daniel schwärmte weder für die Zigeunerin noch für den Elch im Sonnenuntergang, der an der gegenüberliegenden Wand hing, aber seine Mutter hätte wenigstens fragen können. Er schluckte einen Widerspruch hinunter und kratzte sich den Nacken. So war es schon immer gewesen. Thale bestimmte. Seine Mutter war nicht übermäßig streitsüchtig. Sie war nur durch und durch unsentimental und extrem praktisch veranlagt. Alle ihre Gefühle schienen im Theater verbraucht zu werden; es war, als müsse sie tagsüber auf Sparflamme leben, damit sie auf der Bühne erblühen konnte. Selbst als er mit vierzehn Jahren geglaubt hatte, sterben zu müssen, hatte Thale nur über das Praktische geredet. Sie hatte einfach beschlossen, daß der Junge gesund werden sollte, und dann war es so gekommen. Sie hatte die Ärzte immer aufs neue herumkommandiert, und Daniel war gesund geworden. Die Mutter schien das für selbstverständlich zu halten. Daniel hatte sich oft gefragt, warum sie sich Taffa gegenüber nicht dankbarer zeigte. Taffa war zwar ihre Schwester, aber es war doch nicht
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