Das letzte Mahl: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
Billy T. sich offenbar aus den Fingern gesogen, um sie sich vom Leibe zu halten. Hanne Wilhelmsen sollte alles schriftliche Material über den Fall Ziegler lesen. Und analysieren. Vorschläge für weitere Vernehmungen oder andere Maßnahmen unterbreiten. Notizen machen. Wenn sie Glück hatten, würden sie einander kaum begegnen. Sie hatte einen halbmeterhohen Stapel mit Unterlagen aus dem Vorzimmer hergeschleppt, ohne daß irgendwer auch nur in ihre Richtung geblickt hätte. Jetzt lagen die Papiere wie ein wackliges Modell des Postgirogebäudes auf der einen Seite des Schreibtisches. Hanne steckte sich eine weitere Zigarette an und fuhr sich über die Augen. Es war Samstag, der 11. Dezember, und sie hatte sechs Stunden gebraucht, um alles zu überfliegen.
Vielleicht brauchte sie eine Brille.
Die Wohnung war wie ein Mausoleum. Sie hatte es dort zehn Minuten ausgehalten, gerade lange genug, um einige Kleidungsstücke zusammenzuraffen, einen Koffer zu füllen und sich in einem Hotel einzulogieren. Das Hotel Christiania lag nicht weit von der Wache entfernt. Besser, sie nahm sich nicht zuviel auf einmal vor. Zuerst hatte sie mit dem Gedanken gespielt, zu Håkon und Karen nach Vinderen zu fahren. Die hatten ein großes Haus und viel Platz. Doch etwas hatte sie zurückgehalten. Nachdem Billy T. ihr den Rücken gekehrt hatte, wußte sie, was.
Sie hatte nie an sie gedacht.
Nach Cecilies Tod waren die anderen nichts gewesen. Sogar Cecilies Eltern. Cecilies Tod war Hannes Trauer, Hannes Niederlage. Die anderen mochten sich um Beisetzung, Grabstein und Todesanzeige kümmern. Hanne wußte nicht einmal, ob sie in der Anzeige erwähnt worden war. Vermutlich ja, Cecilies Eltern waren immer freundlich gewesen, hatten sie nie verurteilt. In ihren klarsten Momenten sah Hanne, daß die Eltern sich zwanzig Jahre lang gewünscht hatten, von ihr akzeptiert zu werden.
Hanne hatte nicht einen Gedanken für sie übrig gehabt. Nicht für die Eltern, nicht für Freundinnen oder Freunde. Cecilies Tod war ihr Tod. Für andere hatte es keinen Platz gegeben. Daß die Eltern sich vielleicht ein Andenken an ihre Tochter wünschten, ein Schmuckstück oder ein Bild, das alte Riechfläschchen, das Cecilie von ihrer Großmutter geerbt hatte und das ihr liebster Besitz gewesen war, oder das Foto von der frischgebackenen Ärztin Cecilie mit weißem Kittel, Stethoskop und triumphierend über dem Kopf geschwenkten Examenspapieren – auf diesen Gedanken war sie einfach nicht gekommen. Die Wohnung war unberührt. Cecilies Eltern hatten Schlüssel, die hatten sie schon bekommen, als Cecilies Zustand sich so verschlechterte. Sie hätten sich holen können, was sie wollten. Aber niemand hatte die Wohnung betreten, das spürte Hanne sofort, als sie die Tür aufschloß. Nur ihre Trauer erfüllte die Zimmer, die von allen anderen unberührt waren.
Jemand klopfte an die Tür.
Hanne glaubte, sich verhört zu haben, und schlug einen Ordner auf, ohne zu antworten.
Wieder wurde geklopft, und dann ging die Tür langsam auf. Eine Frau steckte zögernd den Kopf herein.
»Verzeihung. Störe ich?«
Hanne Wilhelmsen schaute auf und stieß durch ihre zusammengebissenen Zähne Zigarettenrauch aus.
»Nicht doch. Komm rein, wenn du Rauch vertragen kannst.«
»Eigentlich kann ich das nicht.«
Die Frau war jung und schmächtig, fast zart. Als sie auf den höchsten Absätzen, die Hanne außerhalb Italiens jemals gesehen hatte, zum Fenster lief, dachte Hanne, daß diese Kleine wohl kaum Polizistin war. Sicher irgendeine Sekretärin. Eine von denen vielleicht, die Vernehmungen abschreiben oder so.
Das Fenster konnte geöffnet werden.
»Das ist ein Trick. Hängt mit dem Winkel zusammen, indem das ganze Haus gebaut ist. Du drückst einfach hier …« Sie schlug mit der Faust gegen eine der unteren Ecken. Dann öffnete sie ihre schmale Hand wieder und hielt sie Hanne hin. »Silje Sørensen. Angehende Kommissarin. Nett, dich kennenzulernen.«
Hanne erhob sich halbwegs und nahm die Hand. »Hanne Wilhelmsen. Hauptkommissarin. Auf dem Papier zumindest. Wenn auch nicht gerade, was meine momentane Tätigkeit anbelangt.«
»Ich weiß. Ich habe natürlich von dir gehört. Das haben wir doch alle.«
»Sicher.«
Demonstrativ zündete Hanne sich an der alten eine neue Zigarette an.
»Ich sollte eigentlich nur das hier abliefern«, sagte Silje Sørensen und ließ einen grünen Ordner auf den Schreibtisch fallen. »Haben sie dir nicht einmal einen Besucherstuhl gegeben? Ich hol
Weitere Kostenlose Bücher